Liberty: Roman
trinke nicht die ganze Zeit. Ich nehme nur einen Drink.«
»Es hilft nichts, wenn du dich betrinkst.«
»Ich bin nicht betrunken.«
»Du kannst nicht so tun, als wäre nichts geschehen.«
»Das mache ich doch auch gar nicht.«
»Du kannst nicht einmal darüber reden …« Mutter stockt. Weint.
»Annemette«, sagt Vater. »Ist tot.«
»Du bist einfach besoffen.«
»Versuch, ihren Namen zu sagen.«
»Ich kann nicht mit dir reden, wenn du so bist.«
»Es war ein Unfall, Kirsten. Es war nicht deine Schuld.«
»Du bist entsetzlich!«
»Annemette«, sagt Vater. »Annemette ist tot.« Mutter geht wieder hinein. Und kurz darauf wieder hinaus.
»Wo willst du hin?«, ruft Vater ihr nach.
Die Autotür fällt zu. Der Wagen wird gestartet, fährt davon. Es ist das erste Mal seit Annemettes Tod, dass sie sich ans Steuer setzt.
Ich habe mit den Jungs Fußball gespielt und muss mich beeilen, um noch ein Bad zu nehmen. Ich hoffe, Vater denkt daran, dass er mich heute Abend zu einer Fete in der Schule fahren muss. Vor dem Haus sitzt Léon mit Mutter auf der Veranda. Sie haben zusammen Golf gespielt.
»Léon fährt dich in die Schule«, sagt Mutter und lächelt. Zum ersten Mal seit Langem.
»Irene?«, rufe ich.
»Sie ist nicht da.«
»Wo ist sie?«
»Ich habe ihr freigegeben«, sagt Mutter.
»Hat sie mein Hemd gebügelt?«
»Nein.«
»Aber wieso nicht?«
»Ich habe ihr gesagt, sie kann gehen.«
»Und was ist mit meinem Hemd?«
»Du kannst ein T-Shirt anziehen«, sagt Mutter und lacht. Sie regt sich nicht auf. Wird nicht hysterisch. Lacht nur so eigenartig. Ich gehe ins Bad und ziehe mich um – zurück auf die Veranda.
»Okay«, sage ich. Léon steht auf. Mutter ebenfalls. Er gibt ihr einen Kuss auf die Wange.
»Komm bald wieder«, sagt sie zu Léon, plötzlich sehr ruhig und gefasst – ich verstehe es nicht.
»Werde ich tun«, verspricht Léon. Wir brechen in seinem alten, schäbigen Land Rover auf.
»Wie geht’s dir?«, erkundigt sich Léon.
»Ausgezeichnet.«
»Ich meine … in der Familie? Nach …«, sagt er, ohne es auszusprechen. Annemettes Tod.
»Es geht.«
»Deine Mutter und dein Vater … können sie …?«
»Was?«
»Schaffen sie es?«
»Ja«, sage ich und nichts weiter. Ich weiß es doch auch nicht. Schaffen? Das müssen sie doch. Was zum Teufel meint er?
Auf der Fete ist Nanna sauer, weil ich neulich versucht habe, ihr in ihrem Zimmer das T-Shirt auszuziehen. Sie will gern mit mir tanzen, aber keinen Tanz Wange an Wange. Das ist allerdings das Einzige, was ich kann. Ich hasse es zu tanzen, weiß nicht, was ich mit meinen Gliedern anfangen soll. Ich hab nicht den Mut, Samantha aufzufordern. Sie tanzt mit den älteren Schülern, die sie aus der Schule in Arusha kennt. Zuerst mit einem weißen Burschen, der Mick heißt, und hinterher mit einem großen Inder namens Savio. Ich starre Shakila an – diese glänzende schwarze Haut, das geflochtene Haar, die Brüste und Schenkel. Sie lächelt mir zu. Der DJ legt ein Cheek-to-cheek-Stück auf, und plötzlich gehe ich zu ihr und fordere sie auf. Wir tanzen, und mir hämmert das Herz in der Brust. Annemettes Tod hat etwas verändert – das verstehe ich jetzt. Es lässt mich interessant werden. Völlig egal, ich werde mutig. Shakila nimmt mich bei der Hand, und wir gehen hinaus in die Dunkelheit. Sie nimmt mein Gesicht in ihre Hände und küsst mich. Das Himmelreich. Die Lippen öffnen sich, und Shakilas warme Zunge spielt in meinem Mund, ich spüre ihre weichen Brüste. Unsere Zähne stoßen zusammen, und wir verziehen die Gesichter, lächeln im Dunklen. Ich zünde eine Prince an, die wir uns teilen. Aber ich habe keine Ahnung, was ich zu ihr sagen soll. Und auch sonst habe ich keine Ahnung.
Montag bringe ich es nicht fertig, sie anzusprechen, weil die Welt so verdammt hell ist, und am Dienstag kommt sie in der großen Pause auf mich zu.
»Es funktioniert nicht, Christian«, sagt sie.
»Okay«, antworte ich. Fühle mich wie ein Ausgestoßener. Ist es meine Schuld, dass Annemette gestorben ist? Ich rede mit niemandem in der Schule. Ich kann nichts sagen. Was soll ich sagen? Es scheint, als würden die Leute mich meiden. Bis auf Samantha, sie kommt und hakt sich bei mir ein. Mir wird heiß.
»Lass uns zum Fluss gehen«, sagt sie.
»Wieso?«
»Um zu rauchen, zum Teufel.«
»Na klar«, antworte ich. Wir gehen zum Fluss. Reden über allgemeine Schuldinge, blöde Lehrer, zu viele Hausaufgaben. Wir setzen uns an die Böschung des Flusses, so
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