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Liberty: Roman

Liberty: Roman

Titel: Liberty: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jakob Ejersbob
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Vater kommt und nimmt Mutters Hand. Tränen laufen ihr leise übers Gesicht, tropfen vom Kinn. Ich brauche eine Zigarette. Alle gehen ins Gemeindehaus, in dem Kaffee und Kuchen vorbereitet sind. Tante Lene geht neben mir.
    »Es ist so schrecklich«, sagt sie und schüttelt den Kopf. Ich nicke nur – hoffe, es genügt.
    »Ich muss gerade …«, sage ich, als wir die Tür erreichen, zeige vage über den Friedhof und lasse sie allein weitergehen. Ich lehne mich an eine Steinmauer. Setze die Sonnenbrille auf. Zünde mir eine Zigarette an. Was wollen sie von mir? Sie war sehr klein. Sie ist tot. Das ist traurig, aber … mir geht es einfach nicht sonderlich nah. Vielleicht ist irgendetwas nicht in Ordnung mit mir. Es vergehen nur wenige Minuten, bis Vater zu mir kommt.
    »Bist du okay?«, erkundigt er sich. Ich zucke die Achseln, schaue zu Boden. Ich weiß nicht, ob ich okay bin. »Wir fahren jetzt, Christian«, sagt Vater. »Deine Mutter …«, beginnt er, lässt den Satz aber in der Luft hängen, dreht sich um und geht zum Parkplatz. Mutter sitzt auf dem Beifahrersitz von Onkel Jørgens Wagen, das Gesicht in den Händen vergraben. Onkel Jørgen ist nicht da. Vater setzt sich ans Steuer, ich setze mich auf die Rückbank. Wir fahren nach Kopenhagen. Den ganzen Weg über spricht niemand ein Wort. Vater und Mutter lassen mich in der Wohnung und machen einen Spaziergang.
    Wir verbringen zwei unerträgliche Tage in Kopenhagen, in denen Vater herumrennt, um unsere Flugtickets umzubuchen, damit wir so rasch wie möglich zurück nach Hause kommen. Mutter sitzt nur da und starrt leer in die Luft, und ich gehe um die Seen und rauche Zigaretten, bis sich grüner Schleim auf der Zunge zeigt.
    Zurück in der TPC . Wir sind gestern angekommen. Mutter sitzt regungslos auf dem Sofa. Sehr aufrecht und mit übergeschlagenen Beinen. Sie starrt leer in die Luft. Es ist absolut still hier. Ich will etwas sagen, bekomme aber kein Wort heraus. In meinem Zimmer nehme ich die Schulbücher zur Hand und finde eine Mathematikaufgabe, die ich nicht verstehe. Trage das Buch ins Wohnzimmer und setze mich neben sie aufs Sofa.
    »Mutter, kannst du mir dabei helfen?« Ich zeige ihr das Buch. Sie blickt auf das Buch, dann auf mich – als würde sie mich nicht wiedererkennen. Richtet den Blick wieder nach vorn in den leeren Raum.
    »Ich weiß es nicht«, sagt sie. Ich sitze neben ihr. Ich habe das Gefühl, es wäre völlig verkehrt, wenn ich jetzt einfach aufstehen und gehen würde. Aber was soll ich zu ihr sagen? Dass Annemette tot ist, ist traurig, aber … ich bin noch am Leben. Ich hebe meinen Arm und lege ihn ungeschickt um ihre Schulter. Sie ist steif wie ein Brett. Reagiert überhaupt nicht. Ich ziehe den Arm wieder weg. Stehe auf. Gehe in mein Zimmer, zünde mir eine Zigarette an und rechne die Mathematikaufgabe. Niemand hat gesagt, dass ich morgen wieder in die Schule muss, aber es ist besser.
    Ich versuche, gelassen zu bleiben, als ich an den Klassenzimmern entlang über den Flur gehe. Es ist schon eigenartig. Nanna hat auf dem Weg hierher nur »hej« gesagt. Rogarth hat gar nichts gesagt. Und Jarno lehnt an der Wand.
    »Hej, Mann.«
    »Alles klar?«
    »Du hast nichts verpasst«, sagt er. Kein Wort über meine kleine Schwester. Die tot ist. Es klingelt. Die Stunde vergeht. Irgendetwas über die Ölkrise 1973, die OPEC -Länder, autofreie Sonntage in Europa. Was sollen wir damit? In der Pause lehne ich draußen an der Wand. Versuche, abweisend auszusehen. Shakila steht ein Stück von mir entfernt und schaut zu mir rüber. Ich wünschte, sie käme zu mir, aber ich weiß nicht, was ich sagen soll. Es klingelt. Jemand fasst meinen Arm.
    »Komm her«, sagt eine Stimme. Ich drehe mich um. Samantha steht neben mir.
    »Kommst du?«, fragt Gretchen, ein stilles deutsches Mädchen, die mit Samantha das Zimmer teilt.
    »Ich habe noch was mit Christian zu besprechen«, antwortet Samantha, und Gretchen verdreht die Augen, als Samantha mich um die Ecke zieht, hinter die Klassenräume, zu den Bäumen. »Bist du okay?«, erkundigt sie sich. Ich zucke die Achseln, wende den Blick ab. » Tsk «, zischt sie. »Deine kleine Schwester, sehr traurig.« Ich nicke, versuche, den Kloß im Hals hinunterzuschlucken. Samantha steckt sich eine Zigarette an, legt mir den Arm um die Schulter, reicht sie mir. »Rauch«, sagt sie. Ich nehme die Zigarette und ziehe. Sie drückt mich an sich. »Aber wir sind noch immer hier, Mann. Das sind wir. Wir sind noch lange nicht

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