Liberty: Roman
kleiner Bruder«, sagt sie.
»Was ist passiert?«
»Das Krokodil hat’s genommen«, antwortet er.
»Ich kann Tee kochen«, sagt mama . Ich würde gern Tee trinken, aber Irene winkt ab: »Du musst jetzt fahren. Sonst bist du nicht zurück, bevor es dunkel ist.« Sie hat recht.
»Gute Fahrt«, wünscht ihre Mutter. Ich fahre, mir ist leicht zumute. Es ist fast dunkel, als ich die TPC erreiche. Ich liefere das Motorrad bei John ab und gehe nach Hause.
»Ich möchte nicht, dass du Motorrad fährst, Christian«, sagt Mutter.
»Vater hat gesagt, es ist okay«, erwidere ich. Sie wendet sich an Vater.
»Ich möchte das auf gar keinen Fall«, wiederholt sie, dann schaut sie mich wieder an. »Da sind wir uns doch einig?« Ich zucke die Achseln und gehe durchs Wohnzimmer in die Küche.
»Aber wir können ihn doch nicht bremsen, nur weil …«, beginnt Vater.
»Nur weil!?«, schreit Mutter.
»Du weißt, was ich meine. Er muss doch leben.«
»Ja!«, schreit sie. »Er soll leben! Und nicht in dieser … Wüste herumfahren!« Dann schluchzt sie. Ich muss gar nicht erst nachsehen, ich weiß, dass mein Vater untätig sitzen geblieben ist.
»Wir können ihn schließlich nicht einsperren«, sagt er. Aber keineswegs so untätig, um nicht einen Schluck von seinem Drink zu nehmen. Mutter schnaubt.
»Was für ein Glück, dass wir die Ladung Schnaps bekommen haben und du dich selbst ersäufen kannst.«
»Tja«, sagt Vater. Ich setze mich mit einer Cola auf die Hintertreppe. Zünde mir eine Zigarette an. Sie kriegen nichts mehr auf die Reihe.
Marcus
DER GEIST DER KRANKHEIT
Rebekkas Schrei zerschneidet die Luft, als ich die Zündung ausschalte, um das letzte Stück in die Einfahrt zu rollen. Auch Frauengeschrei dringt mir aus dem Haus entgegen – aber es ist nicht Katriina, das Auto ist nicht da. Ich lehne das Motorrad an die Veranda und stürze ins Haus. Josephina steht zusammen mit der Nachbarin vor dem Bett – ich schubse sie zur Seite und sehe Rebekka: bleich, aufgedunsen und merkwürdig grau im Gesicht.
»Das ist der böse Geist!«, ruft Josephina, Tränen laufen ihr übers Gesicht, die Augen sind aufgerissen. Sie hat Angst. In den Händen hält sie eine geflochtene Schale aus Kokosblättern, wie man sie zum Säubern von Reis verwendet. In den Rand an der Rückseite hat sie vier Hühnerfedern gesteckt – zwei schwarze und zwei weiße. Ich beuge mich zu Rebekka hinunter, die still wird und hickst. Es ist eine Allergie, vielleicht hat sie Cashewnüsse gegessen, die sie nicht verträgt.
Josephina fängt an, die Schale über Rebekkas Kopf hin- und herzuwedeln, wobei sie in der alten Chagga-Sprache, die ich kaum verstehe, Beschwörungsformeln gegen böse Geister murmelt. Jedes Mal, wenn sie die Schale mit der einen Hand schwenkt, benutzt sie die andere, um mit einem Handfeger auf die Innenseite der Schale zu klopfen. Der Handfeger besteht aus längs geschnittenen und gebündelten Palmblättern.
»Hör auf damit«, sage ich und packe den Arm mit dem Handfeger.
»Aber ich helfe ihr, sie stirbt sonst!«, ruft Josephina auf Swahili. Ich gebe ihr eine Ohrfeige, denn Rebekka versteht, was sie sagt.
»Sie stirbt nicht, sie hat nur etwas gegessen, was sie nicht verträgt.« Ich sehe mir Rebekka an, ihr ganzer Kopf ist voller Asche. »Hast du heute im Kindergarten etwas gegessen?«
»Kuchen«, murmelt sie. Ich wende mich an Josephina.
»Wieso hat sie Asche am Kopf?«
»Das ist Medizin gegen die bösen Geister.«
»Die ist sehr gut«, sagt die Nachbarsfrau. Sie hat das einheimische Pulver besorgt, als sie Rebekka sah – sie hat es bei den traditionellen Apothekern an der Bushaltestelle gekauft. »Es zieht den bösen Geist der Krankheit aus dem Kind.«
Ich werfe die Nachbarsfrau auf der Stelle hinaus und danke ihr – dieses wahnsinnige Weib wollte ja nur helfen –, und sie drückt mir die Tüte mit dem restlichen Pulver in die Hand. Ich befehle Josephina, Rebekka das Pulver abzuwaschen und die Hühnerfedern zu entfernen, weil ich weiß, dass die Larssons sie sonst auf der Stelle rausschmeißen würden. Dann suche ich nach den Tabletten und gebe Rebekka eine. Josephina steht daneben und erklärt, Rebekka müsse injection bekommen. Die Leute glauben an Geister oder an den lieben Gott, aber wenn wissenschaftliche Medizin wirken soll, dann muss gespritzt werden – Tabletten sind Schwindel. Ein Arzt im KCMC schießt Salzwasser in die dummen Patienten, und sofort geht es ihnen besser. Josephina ist eine Christin, aber wenn du
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