Lichtfaenger 2 - Bruderkrieg
in diesem Labyrinth war der Kampf bereits in vollem Gange. Jil wusste in ihrem Inneren genau, dass ihre Anwesenheit dort vollkommen überflüssig war. Sie war ein langsamer Mensch, zudem vollkommen unbewaffnet. Ihr würde nichts anderes übrig bleiben, als sich im Hintergrund zu halten und zu hoffen, dass man sie nicht entdeckte. Wie töricht von ihr, sich überhaupt in diese Gefahr zu begeben! Doch Cryson hätte ihren Eigensinn gut genug kennen müssen, um zu wissen, dass sie nicht untätig in seiner Wohnung sitzen würde, bis er aus der Schlacht zurückkehrte. Außerdem plagte sie die Ungewissheit. Sie musste sich vergewissern, dass Ray sich in Sicherheit gebracht hatte. Oh wie sie sich dafür hasste, dass sie ihn liebte! Weshalb nur war alles so kompliziert? Wie konnte man jemanden lieben, gegen den man kämpfen sollte? Immerhin war es ihre Schuld, dass der magische Schutzwall zerbrochen war. Unwissentlich hatte sie damit besiegelt, auf wessen Seite sie stand.
Durch die Erschütterungen, die vermutlich von einer Explosion hergerührt hatten, waren die meisten der Gaslaternen erloschen. Jil ärgerte sich über ihre mangelnde Sehkraft, doch sie hatte während ihres Aufenthalts in Sedhia viel über deren Gangsysteme gelernt, und dieses Wissen kam ihr nun zugute. Sie zählte die Schritte bis zur nächsten Abzweigung, denn sie wusste, dass es ein strenges Schema gab, nach dem die Gänge angelegt waren. Mit jedem Schritt wurden die Schreie und das Zischen und Knallen der Waffen lauter, auch der Feuergeruch war nun so intensiv, dass er in den Augen brannte. Plötzlich waren die ersten Kämpfer ganz nah, und obwohl Jil sie nicht sehen konnte, roch sie den Schweiß auf ihrer Haut, hörte ihren keuchenden Atem und das Aufeinanderprallen ihrer Waffen. Jil blieb stehen und presste sich eng an die Wand. Sie war sich sicher, dass ihre Anwesenheit nicht unbemerkt bleiben würde. Sie war bereits zu weit gegangen. Langsam ging sie ein paar Schritte zurück. Gelegentlich blitzte das Licht einer der Feuerwaffen auf und warf einen kurzen Schein auf die Szene. Es waren mindestens fünf Männer, aber Cryson war nicht darunter. Jil bezweifelte, dass dies der Hauptkampf war, eher ein Geplänkel am Rande des Geschehens. Aber es hinderte sie daran, weiterzugehen. So blieb ihr nichts anderes übrig, als sich weiterhin gegen die kalte Steinwand zu pressen und zu hoffen, dass man sie nicht bemerkte.
Kapitel 6
Wenn der Ausdruck auf seinem Gesicht das widerspiegelte, was er in den letzten Sekunden seines Lebens empfunden hatte, dann musste der Tod ein äußerst angenehmer Zustand sein. Perfekt geschwungene Augenbrauen, faltenlose Haut ohne einen kleinsten Makel, ein sinnlich geformter, vollkommen entspannter Mund. Er war perfekt, und Ray neidete ihm das selbst nach seinem Tod noch. Lesward hatte nur das Beste im Sinn gehabt für den Orden, und damit auch für Ray. Er hatte verdammt noch mal so Recht gehabt. Weiber waren zu nichts gut außer für einen schnellen Spaß, sofern man sich an derlei Dinge erfreuen konnte. Es war unfair, dass der älteste der Vartyden auf so niederträchtige Weise hatte sterben müssen. Wer würde jetzt ihr neuer Anführer sein? Wenn es nach dem Alter ginge, dann wäre Nola die nächste in der Hierarchie. Sie war eine erstklassige Kämpferin und besaß einen wachen Verstand, aber Ray bezweifelte, dass sich ein Haufen Raubeine von einer Frau führen lassen würde.
Ray strich mit dem Zeigefinger die Linie von Leswards Kieferknochen nach. Er hatte ihn nie berührt, zumindest nicht auf freundschaftliche Art. Meistens waren sie im Streit auseinander gegangen, und Berührungen beschränkten sich auf den Austausch von Energie aus dem Sedhiassa .
Das flackernde Licht der beiden Fackeln an den Wänden warf tanzende Schatten auf Leswards Gesicht, es wirkte beinahe lebendig. Ray hatte die Leiche hierher gebracht, weil der Tempel ein uraltes Relikt seines Volkes war, und Lesward hatte diesen Ort geliebt. Er hatte sich aufgeopfert für das, wofür Loniel, der Gründer des Wächterordens, damals sein Leben gegeben hatte. Hier im Tempel soll er sich mit seinem Schwert selbst hingerichtet haben, zumindest hatte man es Ray so erzählt. Er selbst hatte die frühen Tage der Vartyden nicht miterlebt.
Ray ließ sich neben Lesward auf den Boden sinken und horchte in die Stille hinein. Er liebte diese einsamen Momente. Leider verleiteten sie ihn immer wieder dazu, allzu viel nachzugrübeln. Er schloss die Augen und ballte die
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