Lichtgeboren - Sinclair, A: Lichtgeboren
Schmerz und Schwäche sie davor, auch nur einen Schritt weiterzugehen. Floria erinnerte sich an die tiefdunklen Gemächer des Prinzen, und während sie in den dämmrigen Flur starrte, zog sie sich langsam wieder ins Licht zurück. Balthasar musste sich noch im erzherzoglichen Palast aufhalten, in den Ishmael di Studier ihn und seine Familie vor zwei … ja, vor zwei Tagen auf ihr Anraten hingebracht hatte. Er musste einfach dort sein.
Mit einem Ärmel wischte sie sich über ihr schweißnasses Gesicht, drehte sich um und nahm den Schaden etwas genauer in Augenschein. Floria hätte es nicht für möglich gehalten, dass irgendjemand imstande wäre, die Wand zu durchtrennen, nachdem Telmaine von Balthasar verlangt hatte, ein von nachtgeborener Hand gefertigtes Metallgeflecht davorzusetzen, das so stark war, wie Metall ohne Magie nur sein konnte. Für diesen Schnitt war ein schweres Messer mit gezackter Klinge benutzt worden, hinter dem eine außerordentlich kräftige Schulter gestanden haben musste.
Die Ränder bogen sich in ihre Richtung. Der Schnitt war also von der anderen Seite ausgeführt worden.
Sie fuhr herum – ohne ersichtlichen Grund, einzig aus einer plötzlichen Eingebung heraus, dass sich jemand von hinten an sie heranschlich. Doch da war niemand.
Demnach konnte die Absicht des Eindringlings eigentlich nur darin bestanden haben, etwas mitzunehmen oder zurückzulassen. Nervös warf sie einen Blick auf die Lampen, die hell leuchteten. Von allen Zimmern ihres Hauses war ihr salle das einzige, in dem es keine Fenster gab, und das somit ganz und gar von den verzauberten Lampen abhängig war, bei Tag und Nacht.
Sie widerstand dem Impuls, sofort aus dem Raum zu rennen. Stattdessen ließ sie ihren Blick über die Spiegel, die ordentlich aufgehängten Waffen und deren Zubehör schweifen. Alles sah noch genauso aus, wie sie es vor vier Tagen zurückgelassen hatte – wie sie es immer zurückließ. Denn Unordnung konnte sich kein Leibwächter leisten, da er stets in der Lage sein musste, selbst die kleinste Veränderung wahrzunehmen. Wieder dachte sie an den Schuh, der an der falschen Stelle gelegen hatte, und an ihren Traum.
Diese Gedanken führten sie über den Flur in ihr Schlafzimmer, an dem unberührten Bett vorbei, zu einem großen Schrank, dessen Seitenwände aus einem Drahtgeflecht bestanden und dessen Türen mit filigranen Laubsägearbeiten verziert waren. Darin bewahrte sie die Schmuck- und Erinnerungsstücke ihrer Familie auf, sowie ihre eigene kleine Sammlung belangloser Schätze. Sie hakte das Heft ihres Dolches hinter den Knauf der Tür und zog sie auf.
Das Kästchen war nicht mehr da, dieses unansehnliche und doch kunstvoll gearbeitete Behältnis aus Holz und Elfenbein, welches Balthasar ihr zum vierzehnten Geburtstag geschenkt hatte. Das Kästchen, welches sie im Traum zum Prinzen getragen hatte. Ansonsten fehlte nichts. Bett, Bettwäsche, Schlafgewand, Nachttisch – nichts hatte sich verändert.
Von unten hörte sie das sanfte Rasseln des Kettenvorhangs, dessen Glieder sich zu einem neuen Muster ordneten.
Auf leisen Sohlen durchquerte sie ihr Schlafzimmer und riskierte einen Blick die Treppe hinunter. Ein Flackern auf dem Fußboden – ein heller Schatten vor dem grellen Licht der Sonne im schwächeren Schein der Lampen. Ein Paar Füße, trauerrot beschuht, kam auf die Treppe zu.
Mit wenigen Sätzen war sie in ihrem salle , jedoch zu spät. »Mistress Weiße Hand!« Die Stimme von Tempe Silberzweig, einem Mitglied der Richterschaft des Palastes. Wie die Familie Weiße Hand, so besaßen auch die Silberzweigs einen Familienschutzzauber. Ihrer verlieh die Fähigkeit, eine ausgesprochene Lüge zu erkennen. Jedoch konnte man sich auf diesen Zauber nicht im gleichen Maße verlassen wie auf die Fähigkeit, Gifte wahrzunehmen, hatte ihr Vater gesagt. Nichtsdestoweniger war Tempe eine einflussreiche Frau. »Floria, wir müssen mit Ihnen sprechen.«
Mistress Tempe hatte drei Männer der Palastwache dabei: Mortimer Beaudry, einen Hauptmann, den Floria nicht leiden konnte, und zwei Leutnants. Den einen Mann kannte Floria aus dem salle . Im Umgang mit dem Rapier standen sie einander in nichts nach, auch wenn er unberechenbarer und launenhafter war als sie. Der andere war für einen Wachmann recht kurz geraten, stand jedoch in dem Ruf, großes künstlerisches Geschick auf dem Gebiet der Mechanik zu besitzen, das bereits an Magie grenzte, wie manche behaupteten. Mit ihr sprechen ? Sie waren gekommen, um
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