Lichtjäger - Die Wintersonnenwende-Saga
die grauen Massen des Himmels nicht mehr leer waren, sondern bevölkert von Wesen, die weder dem Licht noch der Finsternis angehörten, die sich in geballter Kraft hin und her bewegten, sich sammelten und trennten ...
Das weiße Pferd ritt jetzt wieder auf dem Erdboden, die Hufe stampften entschlossener noch als zuvor durch Schnee und Eis und Wasser. Will merkte, dass es nicht von Merriman gelenkt wurde, sondern einem tiefen eigenen Antrieb folgte.
Wieder blitzte es um sie herum und der Donner grollte. Merriman sagte an seinem Ohr: »Kennst du Hernes Eiche?«
»Ja, natürlich«, sagte Will sofort. Er kannte diese Sage schon seit seiner Kindheit. »Sind wir dort? Die große Eiche in dem großen Park, wo —?«
Er schluckte. Wie war es möglich, dass er daran nicht gedacht hatte? Warum hatte das Buch
Gramarye
ihn alles gelehrt außer diesem? Langsam fuhr er fort: »— wo Herne, der Jäger, hinreitet am Vorabend der Zwölften Nacht?« Dann blickte er sich ängstlich nach Merriman um. »Herne?«
Ich gehe die Jagd zusammenrufen,
hatte der alte George gesagt.
Merriman sagte: »Natürlich. Heute reitet die Wilde Jagd. Und weil du deine Sache gut gemacht hast, wird sie heute zum ersten Mal seit tausend Jahren ein Wild zu jagen haben.«
Die weiße Stute verlangsamte ihren Lauf, sie sog die Luft ein. Winde rissen den Himmel auf; ein Halbmond segelte hoch durch die Wolken, verschwand wieder. Blitze leuchteten an sechs Stellen gleichzeitig auf, in den Wolken rollte und grollte es. Die schwarze Wolkensäule kam auf sie zu, blieb dann stehen, drehte sich und schwankte zwischen Himmel und Erde.
Merriman sagte: »Ein Alter Weg führt rings um den Park, der Weg durch Hunter's Combe, das Jägertal. Es wird eine Weile dauern, bis SIE einen Umweg finden.«
Will spähte in das dunstige Halbdunkel. Im Licht der Blitze erkannte er eine einzelne Eiche, die aus einem riesigen Stamm weit die Äste breitete. Anders als an den anderen Bäumen war an ihr kein Rest von Schnee zu sehen und neben dem Stamm stand eine Gestalt in Menschengröße.
Die weiße Stute hatte die Gestalt auch gesehen. Sie schnaubte heftig und scharrte im Schnee.
Will sagte leise vor sich hin: »Das weiße Pferd muss den Jäger treffen ...«
Merriman berührte ihn an der Schulter und mit zauberischer Leichtigkeit glitten sie zu Boden. Die Stute neigte den Kopf und Will legte seine Hand auf den harten und doch glatten weißen Hals.
»Geh, mein Freund«, sagte Merriman und das Pferd wandte sich und trottete mit eifrigen Schritten auf den riesigen einsamen Eichenbaum und den seltsamen reglosen Schatten darunter zu. Das Geschöpf, dem dieser Schatten gehörte, besaß eine ungeheure Kraft; Will spürte sie und schreckte zurück. Der Mond trat wieder hinter eine Wolke und es blitzte nicht mehr. In den Schatten unter dem Baum konnten sie keine Bewegung erkennen. Nur ein Laut drang durch die Dunkelheit zu ihnen: das freudige Wiehern der weißen Stute.
Wie ein Echo drang aus den Bäumen in ihrem Rücken jetzt ein dunkles Schnauben zu ihnen; als Will herumfuhr, trat der Mond eben hinter den Wolken hervor und er sah die riesenhafte Silhouette von Pollux, dem Zugpferd von Dawsons Hof, und auf seinem Rücken den alten George.
»Deine Schwester ist zu Hause, mein Junge«, sagte der alte George. »Sie weiß, dass sie sich verlaufen hatte; da ist sie in einer alten Scheune eingeschlafen und hatte einen seltsamen Traum, den sie fast schon wieder vergessen hat ...«
Will lächelte dankbar und nickte. Dann sah er, dass George einen seltsam abgerundeten, eingewickelten Gegenstand vor sich auf dem Sattel hatte. »Was ist das?« Das Haar in seinem Nacken sträubte sich, wenn er in die Nähe dieses Dinges kam.
Der alte George antwortete nicht auf seine Frage; er beugte sich zu Merriman herunter: »Ist alles gut gegangen?«
»Alles geht gut«, sagte Merriman. Er schauderte und wickelte sich in seinen langen Umhang. »Gib es dem Jungen.«
Er sah Will mit seinen unergründlichen, tief liegenden Augen fest an und Will ging verwundert auf den Karrengaul zu und blickte zu George auf. Mit einem raschen, freudlosen Lächeln, das eine große Anstrengung zu verbergen schien, ließ dieser seine Last zu ihm herunter. Das Bündel war halb so groß wie Will, aber nicht schwer; es war in Sackleinen verpackt. Gleich als er es in die Hände nahm, wusste Will, was es war. Es kann nicht sein, dachte er ungläubig; was hätte es für einen Sinn?
Wieder grollte der Donner von allen
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