Lichtjahre entfernt: Roman (German Edition)
großen dunklen Türmen in die Nacht erheben, liegen die Schwachen und Ausgeschlossenen, die Geizigen und Ängstlichen. Niemand kommt hier auf die Idee, sein Zimmer als eine Unterkunft zu verstehen. Je weiter man sich von der lichtdurchfluteten Spielhalle entfernt, die anstelle einer Lobby das gesamte Erdgeschoss des Hotels ausfüllt, desto kraftloser und matter wird man. Natürlich bleiben wir nicht auf unserem Zimmer. Wir einigen uns darauf, unser Gepäck nach oben zu bringen, uns umzuziehen und dann wieder ins Erdgeschoss zurückzukehren. Während ich mich rasiere und Judith sich umzieht, überlege ich, wie viel Geld ich dabei habe und ob ich mich betrinken soll. »O.K.«, sage ich mir. »Also gut.« Judith probiert verschiedene Kleider an. Es sind nur zwei, aber sie wechselt sie ständig, sodass es mir am Ende so vorkommt, als hätte sie ein halbes Dutzend dabei. »Was meinst du, ob wir uns betrinken sollen?«, frage ich, das Gesicht noch vom Rasierschaum bedeckt. Sie steht vor dem Kleiderschrank, das erste Kleid in dem riesigen Spiegel betrachtend, der die gesamte hintere Raumhälfte einnimmt. Sie nickt, sie ist noch immer etwas benommen. »Ich möchte erst noch ein bisschen fernsehen«, sagt sie und dreht sich wieder zum Spiegel um. »Wie findest du das?«, fragt sie, sich selbst dabei anerkennend zunickend. »Passt das Blau zu den Schuhen? Oder nicht?«
An diesem Abend verlassen wir das Hotel nicht mehr. Es gibt auch außerhalb des Hotels keinen Ort, zu dem man gehen könnte. Als Erstes suchen wir eine Bar, um etwas zu bestellen. Ich möchte sofort einen Drink, um so schnell wie möglich betrunken zu sein. Judith schlägt aber vor, etwas zu essen. Inmitten dieses großen symphonischen Dröhnens, das von den Automaten kommt, sitzen wir in dem notdürftig abgetrennten Restaurantbereich und halten große abwaschbare Menükarten vor uns. Das Geklimper und Gedudel setzt sich aus 700 verschiedenen Maschinen zusammen, vor denen 400 Hotelbesucher sitzen oder stehen. Die Maschinen orgeln, quieken, klingeln oder singen. Die Benutzer, die gleichzeitig die Hotelbesucher sind, stehen davor. Halb ungeduldig, halb gelangweilt. Einige von ihnen sind über Kabel mit den Maschinen verbunden, und Judith erklärt mir, dass sie auf diese Weise kein Bargeld benutzen müssen. Andere tragen kleine Plastikeimer mit sich herum, in denen sie Unmengen von Kleingeld aufbewahren. Dabei handelt es sich meist um ältere Frauen, die mürrisch und geistesabwesend die Maschinen füttern. Vielleicht erinnert das Blinken, Quaken und Scheppern der Maschinen sie an etwas. Die Einführung der Geldstücke erfordert motorisches Feingefühl, erfordert Fürsorge und Sorgfalt. Die Ankunft oder besser gesagt die Rückkehr des Geldes erfüllt den Raum gelegentlich mit einem irrsinnigen Gelächter. Es ist fraglos eine Geburt. Eine Geburt ohne Schmerzen. Manche Maschinen veranstalten ein regelrechtes Feuerwerk, wenn sie einen Gewinn ausschütten. Die alten Frauen, die Ex-Mütter, die Cowboy-Mütter, nehmen das mit großer Gelassenheit hin, schaufeln sich das Geld in ihre Taschen oder in ihre Plastikeimer und spielen dann weiter. Kellner laufen zwischen ihnen herum, nehmen ihre Bestellungen auf und servieren ihnen auf kleinen Tabletts Speisen und Getränke. Das Licht spuckt, jault, krächzt und leidet. Wenn man die Augen schließt, wird das Zusammenspiel der Geräusche zu einem allmählich sich steigernden Horror, aber wenn man sie wieder öffnet, findet man das Leuchten und Blinken der Maschinen auf einmal unwiderstehlich. An den Tischen sind weniger Frauen, dort überwiegen die Männer. Ich traue mich nicht, zu den Tischen zu gehen, da ich fürchte, dort vielleicht wirklich viel Geld zu verlieren, obwohl ich ahne, dass der Abend nur dann ein Erfolg wird, wenn Judith und ich zusammen Geld verspielen. Aber dafür müssen wir erst betrunken sein. Um was geht es in dieser Nacht? Sind wir gekommen, um uns zu amüsieren, oder sind wir schon an einem Punkt, wo selbst die gemeinsame Freizeitgestaltung zu einer Herausforderung wird? Wir sitzen in dem Westernstadt-Ambiente des Restaurants und essen. Judith isst Salat, ich esse ein Stück Leber. Warum ich an diesem Abend, es ist schon kurz vor Mitternacht, wir haben die Drinks noch ein bisschen verschoben, Leber esse, ist mir selbst ein Rätsel. Judith amüsiert sich darüber, sie ist aber in gleichem Maße erleichtert, dass ich so viel Appetit habe und mir etwas »Richtiges« bestellt habe. Sie ist enttäuscht,
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