Lichtpfade - Die Chroniken der Akkadier II (Gesamtausgabe)
beschreiben konnte man diese Aussicht nicht. Enûma lag an keinem festen Punkt zwischen Planet und Weltall. Es war überall und nirgends, wie eine schwebende Welt, die über die Menschen wachte und dennoch unwirklich blieb.
Die Halbgöttin ging über die Brücke, durch den Nebel hindurch und erreichte den Wald auf der anderen Seite. Ein würziger Geruch schwängerte die Luft. In den Bäumen wuchsen riesige Blüten, die von Insekten und Vögeln gleichsam besucht wurden. Von den Ästen, die in den Weg zur Tempelanlage der Nihren ragten, ließen sich Schlangen hinab, die bei Jolinas Anblick gierig zu züngeln begannen und die Farbe ihrer grünen Schuppen in ein leuchtendes Rot änderten.
Die Halbgöttin schluckte. Sie hatte gewusst, dass sie nicht hierher gehörte. Aber da musste sie nun durch.
Der Wald mündete in einer Lichtung, die vom Sonnenuntergang in roten Glanz getaucht wurde. Vom Himmel stürzte ein Wasserfall hinunter, verschleierte das Tal mit weißem Dunst und mündete in einem Bach, der weiter rechts ebenfalls durch die Wolken hinabfiel. Die Pflanzen in diesem Garten unterschieden sich von denen der Stadtinsel in jeder Hinsicht. Sie blühten kräftiger, waren größer und die Blätter saftiger. Manche sahen aus wie kreisrunde Knospen, andere bestanden nur aus zwei prallen Blütenlippen, die senkrecht aneinander emporwuchsen. Wieder andere besaßen einen hervorragenden Stängel, von dessen breiter Spitze süßlich riechende Säfte tropften.
„Du liebe Güte!“, murmelte Jolina. Eine derartige Szenerie hatte sie beim besten Willen nicht erwartet.
Das Tageslicht der drei Sonnen verschwand, stattdessen begannen die Blüten in allen möglichen Farben zu leuchten. Insekten und Vögel ließen sich darauf nieder und verfielen in einen berauschten Taumel.
„Nur Mut!“
Jolina durchquerte den Torbogen aus Säulen und folgte dem Pfad durch diesen Garten, versuchte dem unvergleichlichen Drang in ihrer Mitte keine Beachtung zu schenken und sich auf das zu konzentrieren, weswegen sie hier war. Über den Bach führte eine kleine Brücke aus Holz, an dessen Streben sich wiederum Schlangen wanden und in ihre Richtung beugten. Sogar einige Pflanzen schienen lebendig und Jolinas Namen zu säuseln. Die Feuchtigkeit in der Luft ließ ihre goldene Haut glitzern und ihre Kleider mehr und mehr durchnässen.
Der Pfad führte wieder ins Dickicht hinein. Doch schon wenige Kurven später erschien ein schwaches Licht von vorn. Als die Halbgöttin aus dem Wald trat, überragten die Tempel der Nihren alles in ihrem Blickfeld und schickten warmen Feuerschein in den Nachthimmel. Das Beeindruckende an diesen Bauwerken waren nicht die Form oder die Größe sondern die Aura, die jeden anzog, in Besitz nahm und einhüllte, jedem alles versprach, wonach man sich auch sehnte. Solch eine glühende Atmosphäre, die Jolinas Sinne sofort berauschte, ob sie nun wollte oder nicht.
Die Tempelanlage umringten riesige Säulen, zwischen denen rote Stoffbahnen nach außen wirbelten und keinen Blick ins Innere erlaubten. Genau vor der Ahne befand sich ein Torbogen, der ebenfalls von Schleiern verhüllt war.
Jolina hielt einen Moment den Atem an und lauschte. Innerhalb dieser Säulen gab es eine Art Vibration, ein Summen. Gesang? Nein. Sie stieß die angehaltene Luft aus, als ihr bewusst wurde, was sie hörte. Natürlich – lustvolles Stöhnen.
Die Halbgöttin schüttelte ihre Furcht ab und ging zwischen den weichen Stoffbahnen hindurch. Sie landete im Inneren der Außenmauer. Hier war es düster, an den Wänden brannten Fackeln. Zwei riesige Wachen, die wohl eher zur Zierde dienten, standen rechts und links des Durchgangs zur nächsten Pforte. Ihre Gesichter wurden durch Masken in Schlangenform verdeckt, die muskulösen Oberkörper, einer hell- und einer dunkelhäutig, waren nackt und die Lenden lediglich durch ein rotes Tuch bekleidet. Jeder hielt einen metallischen Stab mit einer Sichel am oberen Ende vor sich auf den Boden gestemmt.
Jolina ging vorsichtig weiter und die Blicke hinter den Masken verfolgten sie. Der rechte stieß ein zitterndes Schnaufen aus. Er konnte nichts dafür, immerhin war sie Tochter einer Liebesgöttin. Wäre sie ihre Mutter, würden die beiden schon ohnmächtig vor Erregung am Boden liegen.
Sie schritt vorwärts, das Haupt hoch erhoben, und niemand hielt sie auf. Warum auch? Sie wäre solch eine Bereicherung. Natürlich war Jolina als Tochter Ishtars empfänglich für die Liebe, auch für die rein körperliche.
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