Lichtpfade - Die Chroniken der Akkadier II (Gesamtausgabe)
kam auspendelnd zur Ruhe.
Sie hatte vergessen, wie viel Vergnügen es ihr einst bereitetet hatte, den Bogen zu führen. Umso erfüllender kehrte die Freude in diesem Moment zu ihr zurück.
Jolina stieß die angehaltene Luft aus und drehte sich zu Daman um. „Danke.“
Sein Blick war auf den Baum gerichtet und zeigte einen Respekt, der ihn selbst zu überraschen schien. „Scheint genau deine Größe zu sein.“
„Ist es“, bestätigte sie und musterte die schöne Handarbeit. „Wer hat ihn gemacht?“
Es dauerte ein paar Sekunden, ehe er antwortete. „Er gehörte meiner Schwester.“ Die Traurigkeit in seiner Stimme bestürzte sie. Doch Jolina würde nicht nachfragen.
Nicht jetzt.
Sie verließen das Schloss des Königs zu Fuß, als Enûmas Sonnen zur Hälfte am Horizont zu sehen waren, und setzten ihre Reise in die andere Richtung fort.
Daman hatte sich den schweren Rucksack auf den Rücken geschnallt. Heute war er ganz in Schwarz gekleidet, trug Messer in zwei Armscheiden und weitere um die Oberschenkel. Ein langes und ungewöhnlich breites Schwert hing an seiner Hüfte und schwang bei jedem Schritt vor und zurück. Außerdem bedeckte eine schwarze Metallweste seinen Oberkörper.
Jolina trug neben ihrer Tasche den Reflexbogen um die rechte Schulter und den Köcher an der Hüfte. Schwarze Pfeile füllten ihn, und wenn sie Daman glauben durfte, würde die Pfeilquelle nie versiegen, war angeblich mit einem Zauber belegt worden.
Sie überquerten die Brücke und der Fluss unter ihnen wirkte im Morgenlicht noch blutiger. Die Stadt selbst lag um diese Tageszeit in Stille gehüllt. Niemand kreuzte ihren Weg, keine lachenden Kinder, keine winkenden Frauen. Auch die Läden waren geschlossen. Es wirkte gerade so, als würde das Reich der Satoren ihre Abreise nicht billigen. Als würde niemand etwas mit diesem Unterfangen zu tun haben wollen.
An der Hauptstraße angekommen scherten sie nach links und folgten dem Weg hinaus aus der Stadt, wo ein weiteres Haupttor auf sie wartete. Daman ging still neben ihr her, als würde er sich konzentrieren müssen. Vielleicht war er auch angespannt – kein gutes Zeichen.
„Muss ich mich auf irgendetwas vorbereiten?“, fragte Jolina frei heraus, während sie vor dem Tor auf Durchlass warteten.
Schwere Bolzen und ratternde Zahnräder übertönten die Stille des Morgens.
Daman beobachtete die Tore. „Auf die Kehrseite kann man sich nicht vorbereiten.“
„Oh, welche Ermunterung.“
Er schaute zu ihr und blieb erstaunlich ernst. „Egal, was du tust – ob du vor jemandem davonläufst, einen Berg erklimmst oder einen Fluss durchquerst – sieh niemals nach hinten! Dort wartet das Böse nur darauf, Gestalt anzunehmen und dir deine Haut von den Knochen zu lecken!“ Seine Worte kamen in einem drohenden Grollen, das bei Jolina eine Gänsehaut erzeugte.
Sie starrte ihn mit aufgerissenen Augen an, unfähig etwas zu antworteten. Da brach er in schallendes Gelächter aus.
„Mädchen! Du müsstest mal dein Gesicht sehen!“
Daman ging vorwärts, als die Tore offen standen, und sie war damit beschäftigt, ihre Füße zum Laufen zu animieren. Es wollte nicht gelingen.
„Komm schon! Ich wollte dir nur Angst machen. So schlimm ist es wirklich nicht.“
Jolina rieb sich über die Arme, verschränkte sie ineinander und folgte ihm in die Dunkelheit. „Mach das nie wieder.“
Er lachte. „Eigentlich ist die Kehrseite ein unvergleichliches Abenteuer. Die Landschaft bewegt und verändert sich selbstständig. Es gibt die wunderschönsten Kreaturen, auch wenn sie meist schlechte Absichten verfolgen. Und die Erde …“ Der Sator schüttelte den Kopf und lächelte. „Du siehst die Erde, wie du sie noch nie gesehen hast“, schwärmte er und machte die Dunkelheit damit erträglicher. „Das ist … unbeschreiblich. Glaub mir. Du wirst es nicht bereuen. Es ist die Gefahr wert.“
„Aha.“
„Lass dich nur einfach nicht umbringen!“
Mit diesen Worten polterten die Außentore auf und gewährten ihnen freien Ausblick auf ein von grünen Bergen gesäumtes Flachland, an dessen Horizont die Sonnen ihre Linie vollzogen.
„Die Ebene von Baskhardan“, erklärte Daman und schaute im Sonnenlicht zu ihr hinab.
Jolina blinzelte gegen die Helligkeit, empfand die Wärme wie eine Wohltat, wie eine letzte Bestätigung, dass sie das Richtige tat.
„Bereit?“
„Ja“, sagte sie und ging voran.
In der Ebene herrschte eine laue Brise vor, die ihr in der Nase kitzelte. Insekten und Vögel
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