Lichtpfade - Die Chroniken der Akkadier II (Gesamtausgabe)
flogen über die Blumen und das Gras hinweg. Rechts und links vollzog die Wiese eine Steigung, die in tiefroten Berggipfeln mündete – das einzige, was unheimlich wirkte. Ansonsten gab es hier nur friedvolle Geräusche und Düfte, die sie an den Frühling auf Erden erinnerten.
Die Halbgöttin und der Sator folgten einem zweispurigen Pfad mitten hindurch.
„Wurde dieser Weg früher von Pferdewagen genutzt?“, fragte sie, schaute einmal nach hinten und drehte sich wieder vorwärts.
„Ja. Man konnte aber auch mit einem Mustang durchfahren.“ Er grinste.
„Und jetzt nicht mehr?“
„Doch. Aber die Fahrt würde spätestens bei Baskhardan enden.“
„Gab es denn früher, vor der Zeit der Ordnung, kein Tor?“
Daman wedelte mit der Hand ein Insekt fort, während auf Jolinas Schulter ein außergewöhnlich schöner Vogel landete. Er besaß blaues Gefieder, das von silbernen Fäden durchzogen war, trug einen auffallend roten Kopfschmuck und zwitscherte brünstig vor sich her.
„Das Tor gibt es schon immer. Auch die zwei Welten Enûmas. Doch früher wurde der Übergang nicht bewacht. Jeder durfte, wann immer er wollte, passieren.“
„Ach.“
„Ja doch.“ Der Sator zog die Augenbrauen hoch und nickte eifrig. Er machte sich mal wieder lustig über sie.
„Bedarf es einem Wegezoll, um hindurchzugelangen?“
„Jaaa“, sagte er gedehnt.
Jolina hielt dem Vogel ihren Finger vor den Schnabel und beobachtete, wie er daran knabberte und sein Gefieder aufplusterte. „Inwiefern?“
„Das ist für dich nicht von Belang, da ich für dich bürge.“
Aus irgendeinem Grund bereitete ihr seine Wortwahl Sorgen. Doch als der Weg bergauf führte, schaute sie nach vorn, hinein ins Sonnenlicht. Der Ausgang der Ebene von Baskhardan stellte ein riesiges Loch in dem Bergmassiv dar. Je höher sie kamen, desto weiter konnte Jolina das vor ihnen liegende Wüstental betrachten. Sie wusste nicht, was sie erwartet hatte. Aber der Ausblick auf Enûmas Tor zur Kehrseite erwies sich alles andere als angsteinflößend.
Vor ihnen stand das Original des Ishtar-Tores, dessen Kopie einst vor über zweitausend Jahren vom König Nebukadnezar II. auf der Erde als Teil von Babylons Stadtmauern errichtet worden war.
„Diese Aussicht versetzt mich immer wieder in Erstaunen“, sagte Daman.
„Ich dachte …“ Sie unterbrach und ordnete ihre Erinnerung. „Ich wusste gar nicht, dass das Tor tatsächlich noch existiert!“ Jolina schüttelte den Kopf und betrachtete, was sie bis vor kurzem nur von der Erde gekannt hatte.
Den Weg nach Baskhardan kennzeichnete eine gepflasterte Passage, die von unzähligen viereckigen Türmen begrenzt wurde und in Babylon als Prozessionsstraße gedient hatte. Dahinter erhob sich das Ishtar-Tor in seiner zehnmannshohen Pracht, doppelt so groß wie Nebukadnezars Kopie. Das Sonnenlicht reflektierte in den stahlblauen Ziegeln, als besäßen die Mauern ein Eigenleuchten. Und hinter dem Torbogen, der vermutlich den Durchgang zur Kehrseite darstellte, erstrahlte nichts als weißes Licht. Rechts und links darüber thronten die zwei riesigen Türme wie Schachbrettfiguren. Doch die eigentlichen Hüter des Tores erkannte Jolina in zwei kolossgleichen Statuen, die momentan zwar unbeweglich wirkten, es aber sicher nicht waren.
Noch bevor sie den ersten Schritt vorwärts machen konnte, flog der kleine Vogel von ihrer Schulter und wieder zurück in die grüne Ebene hinein. Jolina schaute ihm hinterher und hätte ihn fast beneidet. Doch über diesen Punkt war sie nun hinweg – keine Reue, keine Zweifel.
„Komm“, sagte der Sator und ging voran.
Jolina folgte ihm bergab und entdeckte vor den beiden Noéri eine weitere Gestalt, wesentlich kleiner aber nicht minder respekteinflößend.
„Ist das Goran?“
Daman sah auf und lächelte. „Ja.“
„Wieso ist er hier?“, fragte sie und musterte den Alimbû, der in Kampfmontur gekleidet vor dem Torbogen auf und ab lief.
„Er begleitet uns.“
„Was?!“ Die Halbgöttin blieb stehen und starrte Daman fassungslos an. „Warum?“
Er drehte sich zu ihr um. „Weil er mir noch einen Gefallen schuldet und ich auf der Kehrseite einen zweiten Kämpfer gut gebrauchen kann, um für deinen Schutz zu sorgen.“
„Aber … ich will nicht, dass er sich meinetwegen in Gefahr begibt.“
„Ach, um ihn machst du dir Sorgen?“ Er zog die Augenbrauen hoch. „Falls es dich tröstet, er tut es hauptsächlich meinetwegen und weil er kein Problem damit hat, sein Leben zu
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