Lichtpfade - Die Chroniken der Akkadier II (Gesamtausgabe)
dass sie es als solches wahrnahm. Ob es mit dem Angriff des Moali zu tun hatte? Ob sein Gift ihren Verstand vernebelte?
Was sie über Träume wusste, war, dass sie als Halbgöttin die Illusionen ihrer Akkadier besuchen konnte. Sie durfte mit ihnen reden, ihnen Dinge zeigen, sie lenken. Doch ihrem eigenen Unterbewusstsein ausgesetzt – das war ihr bislang nie passiert. Und es ängstigte sie.
Jolina stand auf einer der vielen Brücken, die die städtische Insel mit den umliegenden Gebieten Enûmas verbanden. Und obwohl sie die zahleichen Kuppeln der Monumente wie auch die Weidenlandschaft sehen konnte, wusste Jolina, dass sie inmitten des Tores zur Kehrseite stand. Das hatte sie in den Träumen anderer oft erlebt. Dinge, die wie etwas oder jemand Gewohntes aussahen, stellten für den Träumenden etwas vollkommen anderes dar.
Ging sie nach rechts, kehrte sie zurück zu ihrer Familie, nach Hause. Würde sie nach links schreiten, beträte sie die sogenannte Hölle.
Eine Entscheidung wurde verlangt.
Da erkannte Jolina – sie hatte längst gewählt.
Mittlerweile war es nicht nur Noahs Verhalten, dass sie von ihrer Familie forttrieb, sondern auch der Sator, dem sie folgen wollte. Wohin auch immer.
Trotz aller Ängste.
Trotz möglicher Qualen.
Ihr bisheriges Leben erschien ihr lächerlich im Vergleich zu dem, was vor ihr lag. Es war aufregend, gefährlich. Und sie wollte all das. Sie wollte alles kennenlernen. Auf keinen Fall würde sie umkehren und sich für den Rest ihres Daseins fragen, was wohl passiert wäre, wenn …
Jolina sah an sich hinab. Sie trug Turnschuhe, Jeans und ein legeres weißes T-Shirt, sah aus wie eine Sterbliche.
Mit jedem Schritt kam sie der Kehrseite näher. Vor ihr erschein Daman und schüttelte seinen gehörnten Kopf mit einem sorgenvollen Ausdruck im Gesicht.
„Du gehörst nicht hierher“, sagte er, ohne den Mund zu bewegen. Und es hätte jeder sein können, der ihr das sagte – Elias, ihre Mutter, selbst Noah.
„Ab sofort entscheide ich für mich selbst!“
Das Bild vor ihren Augen verschwamm und wurde dunkler.
Jemand weinte.
Ihr Körper zitterte. Ihr Arm brannte. Ihr Magen drehte sich.
Sie war es, die weinte. Jolina blinzelte und konnte ihr eigenes Wimmern nicht unterdrücken.
„Schsch. Ganz ruhig, Mädchen.“
Sie vermochte, nichts zu erkennen, aber die Stimme klang nach Daman.
„Du bist in Sicherheit.“
Jemand goss eine warme Flüssigkeit über ihren Arm. Jolina schluckte und wurde langsam wacher, fand ihre Stimme wieder.
„Was ist das? Es stinkt!“ Sie zog die Nase kraus und blinzelte erneut.
„Sei ruhig! Es hilft dir.“
„Sprich nicht so“, sie hustete, „mit einer Göttin!“
Daman grummelte. „Du könntest auf einem Scheiterhaufen stehen und würdest vom pöbelnden Mob noch immer Gehorsam verlangen, wie?“
„Was?“, stammelte sie und fand ihr Augenlicht wieder.
„Schon gut.“ Der Sator stellte die Schale beiseite, nahm ihren Arm in beide Hände und betrachtete die Wunde. Die schwarzen Brauen tief gesenkt bewegte er ihr Handgelenk hin und her. Die nackten Muskeln seiner Brust arbeiteten unter der Haut, die von einem Flaum dunkler Härchen bedeckt wurde, und zeichneten faszinierende Schatten darauf. „Es wird.“
Er ließ sie los und Jolina hob die Verletzung in ihr Sichtfeld. Sie war nicht mehr schwarz, hatte eine normale Farbe angenommen.
„Womit hast du sie übergossen?“
Daman stand auf. Das Hemd ragte aus seiner Hosentasche hervor. Ein tiefschwarzer Fleck hatte sich darauf gebildet. Erst jetzt bemerkte Jolina, dass sie in einem Feld lag, und rappelte sich mühsam hoch. Der Mustang parkte einige Meter entfernt und gab blubbernde Geräusche von sich. Weit und breit war nichts außer ockerfarbener Landschaft zu sehen – kein Fluss, kein See, keine Pflanzen.
„Mit einer Tinktur, die bei diesen Bissen hilft.“
Sie stützte sich auf ihre Hände. „Und woraus hast du sie gemacht?“
Er schnaufte ungeduldig. „Sie war schon fertig, okay?“
„Nein.“ Jolina zuckte verständnislos mit den Schultern. „Wo ist das Problem? Warum sagst du es mir nicht?“
Sie sah zur Seite und betrachtete die Schale, wollte sie gerade in die Hand nehmen.
„Nicht!“, hielt er sie auf und starrte sie entnervt an. „Sag mal, kannst du nicht einfach mal etwas hinnehmen, ohne immer alles bis ins kleinste Detail wissen zu wollen?“
„Das tue ich überhaupt nicht!“
„Natürlich!“ Er atmete hörbar aus. „Ist auch egal. Komm! Wir müssen
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