Liebe auf den ersten Klick
Schwester nimmt mich behutsam beim Ellbogen und führt mich zu einem kleinen Tisch mit ein paar Stühlen neben der Tür. Ich setze mich und halte mich krampfhaft am fleischfarbenen Sitzpolster fest.
»Ich bin Claire, eine der diensthabenden Schwestern heute. Ich muss kurz mit Ihnen reden, Vivienne, dann können Sie Ihre Großmutter besuchen.«
Mühsam ringe ich mir ein Lächeln ab. Ich fühle mich so hilflos, so als wären mir die Dinge völlig entglitten. Der krankenhaustypische Geruch nach gekochtem Kohl weht durch den Korridor.
»Alles in Ordnung?«, fragt sie.
»Ich will nur zu ihr«, antworte ich und spüre, wie meine Unterlippe bebt.
»Ich weiß. Ich muss Ihnen allerdings sagen, dass sie in einem sehr schlechten Zustand ist. Sie bekommt Antibiotika und hängt am Tropf. Außerdem versorgen wir sie mit Flüssigkeit.« Sie mustert mich forschend. Ich nicke, doch das Mitgefühl in ihren Augen ist zu viel für mich. »Sie bekommt Sauerstoff, weil sie Probleme mit dem Atmen hat, und muss deshalb eine Maske tragen.«
»Wird sie wieder gesund?«
»Im Moment ist sie jedenfalls stabil. Aber ich sorge dafür, dass der Arzt mit Ihnen spricht, sobald er kommt.« Sie drückt meinen Arm. Ihre Finger wirken so kräftig und beruhigend. Sie ist eine Heldin, jemand, der Gutes tut und anderen Menschen hilft. Wenn ich daran denke, womit ich die letzten vierundzwanzig Stunden meines Lebens verbracht habe, überkommt mich ein schlechtes Gewissen.
»Ist sie wach?«
»Sie ist im Moment nicht bei Bewusstsein.« Ich starre auf den glänzenden rosa Boden. »Okay. Sie müssen Ihre Hände sterilisieren, dann können wir gehen.« Sie gibt einen Code auf dem Tastenfeld neben der Tür ein, worauf sie sich öffnet.
Die Wände von Station zwölf sind hellgrün gestrichen, und an den Fenstern hängen dunkelblaue Vorhänge. Es stinkt nach Kot und Desinfektionsmittel. Links und rechts stehen Betten, in denen die Umrisse von reglosen Schwerstkranken zu erkennen sind. Ich sehe mich um. Diesen Menschen geht es doch viel schlechter als meiner Nana. Wieso um alles in der Welt hat man sie hierhergebracht?
Neben dem Bett eines bis aufs Skelett abgemagerten Mannes bleiben wir stehen. Seine Haut ist ledrig und hat die Farbe einer Walnuss, als hätte man ihn geradewegs aus einem Sarkophag geborgen. Er blickt mich kläglich über den Rand seiner Sauerstoffmaske hinweg an. Ich starre in seine gelblich verfärbten Augen und versuche verzweifelt, mein Entsetzen mit einem höflichen Lächeln zu kaschieren. Er nickt mir zu. Die Schwester zieht einen Vorhang um ein Bett zurück, und da ist sie: meine Nana. Meine energiegeladene, quirlige Nana. Sie liegt auf dem Rücken, die Hände links und rechts neben sich, vollkommen reglos. Mir stockt der Atem.
»Möchten Sie vielleicht eine Tasse Tee?«, fragt die Schwester und drückt meine Schulter.
»Äh, ja, bitte.« Eine einzelne Träne kullert mir über die Wange. Ich setze mich auf den Besucherstuhl, nehme ihre Hand und streiche leise weinend mit dem Daumen über ihre von Altersflecken übersäten Finger. Ihre armen arthritischen Fingerknöchel. Ihre mandelförmigen Nägel wirken seltsam bleich ohne den schrillen Nagellack, mit dem sie sie immer so gern lackiert. Zum allerersten Mal in meinem Leben drücke ich ihre Finger, ohne dass sie darauf reagiert. Ich küsse sie. Ihre Haut fühlt sich kühl und glatt wie Marmor an. Tränen kullern mir übers Gesicht. Ich wische sie weg. Die weiße Sauerstoffmaske bedeckt ihren Mund und ihre Nase. Ihre Augen sind geschlossen. Sie wirkt sehr friedlich. Ich streiche über die Falten an ihren Schläfen.
»Nana.« Ich küsse sie auf die Stirn, streiche ihr das Haar aus dem Gesicht und presse ihre Hand gegen meine Wange, während ich zusehe, wie sich ihre Brust unter ihren langsamen Atemzügen hebt und senkt. Eine transparente Flüssigkeit tropft aus einem Beutel durch einen Schlauch, der mit einem Klebestreifen auf der per gamentartigen Haut in ihrer Armbeuge befestigt ist, wo sich bereits ein Bluterguss zu bilden beginnt. Ich lese, was auf ihrem Armand steht. Eve Summers, geb. 07.05.42. Diese Frau, die mir so viel bedeutet, Eve Summers, ist mein Anker im Leben. »Wieso hast du dich bloß geweigert, den Arzt kommen zu lassen?« Wieder wische ich mir die Tränen ab. »Reg hat gesagt, du hättest es ihm verboten.« Ich küsse ihre Fingerknöchel. »Und sieh dir an, wohin es dich gebracht hat. Jetzt liegst du hier, in diesem Bett.«
Die Schwester bringt mir einen Pappbecher
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