Liebe auf den ersten Klick
Ich habe mir einen gut aussehenden reichen Mann geangelt, der mich aus alldem rausholt. Wie Cinderella. »Aber du liebst ihn nicht!«, schreit meine innere Stimme, ehe ich sie wie eine gekidnappte Geisel brutal zum Schweigen bringen kann. Das stimmt nicht. Ich liebe Rob. Ganz ehrlich. Und das Allerbeste daran ist, dass ich mir nicht die geringsten Sorgen zu machen brauche. Hatte ich nicht sowieso die Nase voll von diesem Job? War er mir nicht längst so peinlich, dass ich mich nach etwas anderem umsehen wollte? Tja, genau das kann ich ja jetzt tun. Weil ich mit meinem reichen Verlobten das große Los gezogen habe.
Aber … Nein! Es gibt kein Aber.
Nachdenklich starre ich in den Himmel, als mein Handy vibriert. Ich blicke auf das Display, erkenne die Nummer jedoch nicht. Max! Vielleicht ruft er von einer Telefonzelle aus an.
»Hi!«
»Vivienne, hier ist Reggie von nebenan.« Reggie wohnt nicht neben mir. Was für eine unmögliche Art, sich am Telefon zu melden!
»Hallo.«
»Es geht um deine Nana, Kleines.« Ich höre das leise Altersbeben in seiner Stimme. Dieser blöde alte Sack. »Ich rufe aus dem Krankenhaus an. Du solltest vielleicht besser herkommen.«
»Was ist passiert?«
»Na ja, sie … Es geht ihr nicht gut.«
»Nicht gut?«
»Ja, sie wollen sie hierbehalten. Lungenentzündung, sagen sie. Sie hatte mir verboten, einen Arzt zu rufen.«
Der Zug nach Kent hält an jedem Briefkasten an. Wir rattern an verwahrlosten Terrassen mit windschiefen Schaukeln und nachträglich angebauten Wintergärten vorbei.
Bestimmt wird Nana wieder gesund. Sie ist hart im Nehmen. Ich kann mich nicht erinnern, dass sie jemals krank gewesen wäre. Einmal ist sie gestürzt, wobei ihre Arthritis entdeckt wurde, aber ansonsten war sie immer kerngesund.
Menschen können an Lungenentzündung sogar sterben. Vor allem alte Menschen. Sie werden ins Krankenhaus eingeliefert und kommen nie wieder heraus.
Aber Nana ist nicht alt. Sie ist gerade erst siebzig geworden. Sechzig sei das neue vierzig, heißt es doch immer … Und bis vor Kurzem hat sie auch nie geraucht, deshalb hat sie eine kräftige Lunge.
Aber sie ist so schrecklich dünn. Sie hat Untergewicht. In letzter Zeit fällt mir immer wieder auf, wie gebrechlich sie ist. Die Vorstellung, sie könnte vielleicht bald nicht mehr da sein, legt sich wie ein dunkler Schatten über mich. Sie war stets Teil meines Lebens. Meine Mutter hat mich bei ihr abgesetzt, als ich sieben war. Damals hat sie mich bei der Hand genommen und mich seitdem nie wieder losgelassen. Ich muss daran denken, wie souverän und liebevoll sie war, als ich mit sechzehn dachte, ich sei schwanger. Selbst nach Großvaters Tod war sie diejenige, die mich getröstet hat. Meine Augen füllen sich mit Tränen. Sie ist die einzige Konstante in meinem Leben und der freundlichste Mensch auf der ganzen Welt. Alle sagen das. Zahllose Beispiele für ihre Großherzigkeit kommen mir in den Sinn. Ich rufe sie mir alle ins Gedächtnis, eines nach dem anderen, bis ich spüre, dass der düstere Schatten allmählich verblasst.
Schließlich betrete ich das Krankenhaus, wo Reggie mich in Empfang nimmt und in die Arme schließt. Meine Augen befinden sich auf derselben Höhe wie seine mit Haaren zugewucherten Ohren. Ein Knochen in meinem Rücken knackt. Ich sehe ihm an, dass er geweint hat.
»Wo ist sie?«
»Auf Station zwölf.« Ich suche die Informationstafel ab. »Sie ist nicht bei Bewusstsein.« Seine Augen glitzern feucht zwischen tiefen Furchen.
»Wie lange schon?«
»Seit heute Nacht.«
»Wieso hast du mich nicht früher angerufen?«
»Sie hat gesagt, sie hätte eine Nachricht bei dir hin terlassen. Ich sollte dich nicht belästigen, vor allem nicht bei der Arbeit, hat sie gemeint.« Ich laufe los, den Korridor entlang und um die Ecke, wo ich prompt einen Mann anremple und seinen Chrysanthemenstrauß platt drücke. Station zwölf ist verschlossen. Ich rüttle an der Türklinke. Es dauert einen Moment, bis ich die Sprechanlage bemerke und den Summer drücke. Eine Frauenstimme meldet sich.
»Ich bin wegen meiner Großmutter hier … Eve Summers. Ist sie da drin?« Die Stimme sagt, ich soll warten. Wenig später geht die Tür auf, und eine dunkelhaarige Schwester in einer blauen Uniform tritt heraus.
»Hallo. Sind Sie Vivienne Summers?«, fragt sie leise.
»Ja. Meine Großmutter ist mit Lungenentzündung eingeliefert worden. Es hieß, sie läge auf Station zwölf. Bin ich hier richtig? Ist sie bei Ihnen?« Die
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