Liebe auf den letzten Blick
Wahrsagerin Minerva. Und wenn es doch zu düster wirkt, lege ich einfach einen bunten Schal um oder lockere das Styling mit buntem Schmuck auf.«
»Mystisch?«, wiederhole ich irritiert. Doch ich muss zugeben, dass Fred recht hat.
Die Besteckschublade knallt lautstark zu. »Wahrsagerin?«, fährt Gustl erschrocken herum. »Siehst du deshalb so … so … komisch aus? Wie die wilde Hilde!«
Amelie lächelt, als habe er ihr ein Kompliment gemacht. »Das hast du aber schön gesagt, Gustilein«, sagt sie, und währendsie das Dirndl wieder einpackt, erzählt sie ausführlich von ihren Ambitionen. Ihre Geschichte endet mit dem Versprechen: »Und bald sind wir reich.«
»Dagegen ist natürlich nichts einzuwenden«, kommentiert Gustl und lacht, als würde er das Ganze nicht allzu ernst nehmen.
»Würdest du mir die Karten legen?«, fragt Dana.
Minerva
mustert Gustls Tochter eindringlich. »Du hast Liebeskummer, richtig?«
Dana senkt seufzend den Blick, lässt die Frage aber unbeantwortet.
»Gustl, bis zum Essen dauert es sicher noch, oder?« Amelie steht auf.
»Ja, ja«, antwortet er und strahlt seine Geliebte an. »Du hast eine gute halbe Stunde, um in die Zukunft zu blicken.«
»Prima, dann will ich mal die Karten holen«, verkündet sie, überlegt es sich aber gleich darauf anders und schaut Dana fragend an. »Oder wäre es dir lieber, wenn wir ungestört sind? Dann folge mir in mein … ähm … unser Stübchen.«
Dana nickt lächelnd und folgt ihr.
»Na, wenn das nur gut geht!«, stöhne ich auf, als die beiden draußen sind.
Gustl schüttet in Öl eingelegte getrocknete Tomaten und geschälte Mandeln in den Mixer und legt eine kleine Chilischote sowie zwei Knoblauchzehen darauf. »Mach dir keine Sorgen«, beruhigt er mich. »Amelies Welt ist himmelblau, voller rosa Wolken und Glücksbärchen, auch wenn sie sich jetzt schwarz kleiden will. Oder kannst du dir vorstellen, dass sie in der Zukunft auch nur eine einzige trübe Stunde entdeckt? Weder für sich selbst, noch für andere. Das liebe ich ganz besonders an ihr.«
So habe ich das noch gar nicht betrachtet. Aber Gustl hat recht. Amelie ist wie gemacht dazu, strahlendes Licht ins Zukunftsdunkel verzweifelter Menschen zu bringen.
Ob ich auch Rat bei Madame Minerva suchen sollte?
16
Seit Gustl zurück ist, lasse ich meinen Fernseher bis weit nach Mitternacht laufen. Amelies »Anti-Aging-Kur« hindert mich am Einschlafen.
»Täglich Sex, und man bleibt gesund und wird hundert Jahre alt«, zwitscherte sie, als ich mich gestern über die unzweideutigen Geräusche aus Gustls Zimmer beschwert habe.
»Du vielleicht«, meinte ich. »Ich hingegen werde bald an akutem Schlafmangel sterben, wenn das so weitergeht.«
»Okay, dann werde ich mein Gustilein etwas weniger laut knuddeln«, gab sie klein bei.
Doch sie denkt nicht daran, ihr Versprechen einzuhalten. Um dennoch Erholung zu finden, versuche ich, morgens länger zu schlafen. Aber auch das klappt nicht, sie lassen mir keine Chance.
Um sieben Uhr fahre ich aus den Kissen und brülle genervt: »Ruuuhe!«
Aus Danas Zimmer ertönt die rauchige Stimme von Amy Winehouse. Jeden Morgen erklingt ein trauriges Lied, in dem die Sängerin um eine verlorene Liebe weint. Wenn ich nicht so müde wäre, würde ich mitschluchzen.
Etwa zehn Minuten später beginnt Moritz mit Liegestützübungen. Eine extrem lautstarke Beschäftigung. Meine Güte, der Junge hat vielleicht ein Organ.
Natürlich bin ich unbedingt für körperliche Ertüchtigung. Bewegung ist gesund – nur die Begleitgeräusche nerven. Aber wie kann ich mich auf liebenswürdige Art beschweren? Da gelte ich doch sofort als olle Meckertante. Ich möchte wederMoritz von seinem Sport abhalten, noch Dana ihre Laune verderben. Denn trotz der melancholischen Songs lächelt Dana wieder und nascht ständig Gummibärchen – Amelie hat wohl tatsächlich Gutes vorausgesehen.
Also übe ich mich in Toleranz, um mich nicht als alte Schachtel zu gebärden, die sich über die kleinste Ruhestörung aufregt. Viel lieber bin ich die coole WG-Mama (wie Moritz mich auch schon genannt hat), die den Kindern jeden Spaß gönnt.
Gustl wünscht sich, dass Dana nicht wieder nach Berlin zurückgeht und in der WG wohnen bleibt. Soll mir recht sein, dann würde aus unserer Oldie-WG langsam eine richtige Großfamilie. Bei dem Gedanken wird mir augenblicklich warm ums Herz und ich spüre meine Augen verdächtig feucht werden. Und deshalb zum sentimentalen Weib zu werden, ist allemal
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