Liebe auf den zweiten Kuss
der Tatsache, dass sie gerade eben möglicherweise einer Vergewaltigung oder Ermordung entgangen war. Sie setzte sich neben ihn auf das Bettsofa, blass und feingliedrig und zart, und verschlang Vollkorntoast mit Erdnussbutter und Marmelade mit einem fast schon beunruhigenden Appetit.
Gabe nahm ein Stückchen Eis aus seinem Glenlivet und reichte es ihr. »Kühlen Sie damit die Beule auf Ihrer Stirn.« Er trank den Rest seines Scotchs aus.
Sie hielt sich den Eiswürfel an den Kopf und runzelte die Stirn, als er zu schmerzen begann und das Wasser ihr den Arm hinunterlief.
»Danke, dass Sie die Polizei zuerst angerufen haben«, sagte Gabe und benutzte ein Kopfkissen, um ihren Arm abzutupfen.
»Ich bin schließlich nicht blöd«, erwiderte Nell.
»Das habe ich auch nicht angenommen«, entgegnete Gabe. »Lediglich verrückt. Glauben Sie, dass es Lynnie war?«
»Ich weiß es nicht.« Während Nell ihren Toast kaute, dachte sie darüber nach, und ihr Gesicht nahm jenen intensiven Ausdruck an, der ihn normalerweise nervös werden ließ. »Nein. Wer auch immer es war, blieb zunächst unten und kam erst später herauf. Er hat dort unten nach etwas gesucht...«
»… und es nicht gefunden. Lynnie hätte gewusst, wo sie suchen müsste.« Gabe stellte sein Glas ab. »Kommen Sie.«
»Wohin?«, fragte Nell.
»In Ihr Schlafzimmer«, erwiderte er.
»Ihrer Verführungstaktik mangelt es definitiv an Finesse?«, bemerkte Nell und ließ ihn warten, bis sie ihren Toast ganz aufgegessen hatte.
Er stand im Türrahmen und starrte in ihr Zimmer. Kleidung und Bücher waren überall verstreut, ihre Bettdecke lag zusammengeknüllt in einem Haufen auf einem riesigen Bett, das fast das gesamte Zimmer ausfüllte. Mittendrin saß Marlene auf einer dunkelblauen Flauschdecke und blickte sie vorwurfsvoll an.
»Nett«, bemerkte Gabe und sah sich im Zimmer um. »Ich übernehme den Kamin. Sie räumen den Fußboden frei, damit wir die Dielen abklopfen können.«
Zweieinhalb Stunden später kannte Gabe den ersten Stock von Nells Appartement so gut wie sonst kaum einen anderen Ort auf der ganzen Welt, doch hatten sie nichts gefunden. Erschöpft streckte sich Nell, als sie vom Fußboden des Gästezimmers aufstand, dabei machte ihr Pyjama bei jeder Bewegung merkwürdige Sachen. Dann sagte sie: »Ich würde zu gerne hier bleiben und mit Ihnen spielen, aber ich muss in einer Stunde im Büro sein.«
»Ich auch.« Gabe lehnte sich mit dem Rücken gegen die Wand und blickte sich stirnrunzelnd in dem leeren Zimmer um. »Mein Glück, dass ich eine Sekretärin habe, die sich ums Büro kümmert, wenn ich spät dran bin.«
»Mag sein, dass sie anruft und sich wegen Erschöpfung krankmeldet«, bemerkte Nell.
»Gar keine schlechte Idee«, pflichtete ihr Gabe bei. »Wir sollten die Wohnung nicht aus den Augen lassen, bevor wir sie richtig auseinander genommen haben.«
»Und wie nennen Sie das, was wir gerade getan haben?«, fragte Nell. »Eine flüchtige Durchsuchung?«
»Riley fällt vielleicht etwas ein. Ihm entgeht nur wenig. Und das Erdgeschoss fehlt uns noch komplett.« Er stand auf, ging in ihr Schlafzimmer und nahm den Telefonhörer zur Hand. Dann tippte er ein paar Zahlen ein und musterte sie stirnrunzelnd, als sie das Zimmer betrat. Sie war noch blasser als gewöhnlich, und die Beule auf ihrer Stirn verfärbte sich allmählich violett.
»Sie sehen schrecklich aus.«
»Besten Dank.« Nell setzte sich auf das große Bett und ließ sich gegen die Kissen fallen.
»Dieser Pyjama sieht besser aus als der mit den I-Ah-Eseln«, bemerkte er. »Aber Ihre Stirn ist eine Katastrophe.«
»Ich wurde in Erfüllung meiner Pflicht verletzt«, versetzte sie und krabbelte unter die Bettdecke.
»Ich habe Ihnen doch gesagt, dass Sie Eis auf die Beule pressen sollen«, sagte Gabe, während das Telefon klingelte. »Sie sollten...«
»Was?«, brummte Riley verschlafen.
»Ich bin’s. Du musst heute das Büro aufschließen. Nell kommt nicht.«
»Ich kann später kommen«, unterbrach ihn Nell und kämpfte gegen den Schlaf an. »Es ist nur...«
»Und sag alles ab, was du eventuell für heute Abend geplant hast. Bei Nell wurde gestern Abend eingebrochen. Wir müssen ihre Wohnung auf den Kopf stellen.«
»Eingebrochen?«, fragte Riley, plötzlich hellwach. »Geht es ihr gut?«
»Es geht ihr gut. Sie ist nur etwas benommen. Alles, was sie jetzt braucht, ist etwas Schlaf und ein wenig Eis.« Er linste zu ihr hinüber, doch sie schlief bereits. Zum ersten Mal, seit er
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