Liebe im Zeichen des Nordlichts
oder untergehen, meinte er. So ist es heutzutage. Wie sollen sie es je lernen, wenn sie sich die Hände nicht schmutzig machen? Diese jungen Leute erwarten, dass man sie mit dem Löffel füttert. Tja, ich leite aber keinen gottverdammten Kindergarten.
»Er könnte seine Stelle oder sogar seine Zulassung verlieren.«
Addie nickte nur. Sie saß kerzengerade da und hielt den Kopf hoch erhoben. Dabei strömten ihr die Tränen übers Gesicht, und ihr war flau im Magen. Sie fühlte sich, als würde ihr der Boden unter den Füßen weggezogen. Nun kippte sie nach hinten. Ich war glücklich!, konnte sie nur denken. Einen Moment lang habe ich geglaubt, dass ich tatsächlich glücklich werden könnte.
»Oh, Della«, sagte sie. »Ich kann nicht fassen, dass uns so etwas passiert.«
Als Della zu ihr herüberkam, schlang sie die Arme um sie. Della zog den Blondschopf ihrer Schwester in die Kuhle an ihrem Hals und berührte ihren Scheitel mit den Lippen.
»Ich weiß, Liebes«, sagte sie. »Ich weiß.«
Allerdings fühlte sie sich wie eine Verräterin, noch während sie es aussprach. Ihre Augen waren trocken, ihre Stimme war ruhig. Sie konnte gar nichts empfinden.
Sie streichelte Addies Haar. Da sie auf sie herunterschaute, bemerkte sie, dass ihre Ansätze herausgewachsen waren. Ein voller Zentimeter trübes Aschblond, bevor die honigblonde Haartönung begann. Ein einsames, drahtiges weißes Haar ragte aus ihrer Kopfhaut. Della hätte es am liebsten ausgezupft.
Inzwischen schluchzte Addie. Ihre Schultern bebten.
»Ich weiß«, sagte Della und lehnte das Gesicht an Addies Kopf. »Ich weiß.«
Sie spürte die Trauer ihrer Schwester, die wie eine heiße Welle aus ihr hochstieg. Della beneidete sie darum, dass sie so hemmungslos trauern konnte.
Della selbst spürte nichts als einen dumpfen Schmerz im Herzen.
Gerade fragte sie sich, wie sie sich losmachen sollte, als Tess ins Zimmer getrampelt kam. Früher oder später musste es ja passieren. In den letzten zehn Jahren hatte sie kein Gespräch führen können, das nicht von einem der Kinder unterbrochen worden wäre.
»Mum?«
Tess stand da, als hätte sie ihr Anliegen vergessen.
Manchmal glaubt Della, dass ein unsichtbarer Faden sie mit Tess verbindet. Sie ist das feinfühligste ihrer Kinder. Wenn Della morgens die Augen aufschlägt, ist das Kind immer da und wartet neben ihrem Bett darauf, dass sie aufwacht. Manchmal kann das recht unheimlich sein.
»Was hat Addie denn?«
Die Frage war an Della gerichtet, obwohl Addie sich im Raum befand. Schließlich war es Dellas Aufgabe, die Welt für Tess zu deuten, die Vermittlerrolle zu übernehmen.
»Oh, gar nichts, mein Schatz. Sie kriegt nur ihre Tage.«
Ein verständnisloser Blick.
»Glaube mir, Schatz, genauer willst du es gar nicht wissen.«
Addie lachte leise auf. Sie griff nach ihrer Tasse und stürzte den Tee hinunter. Ihr Gesicht war fleckig.
Tess verharrte wie angewurzelt und musterte Addies Gesicht auf der Suche nach einem Hinweis.
Als Addie ihr zittrig zulächelte, erwiderte Tess die Geste nicht.
»Ich habe Hunger«, verkündete sie. Gerade war ihr eingefallen, warum sie nach unten gekommen war.
Della ging zur Anrichte und begann, Kräcker mit Butter zu bestreichen. Sie legte zwei aufeinander und wiederholte die Prozedur.
»Hier, eines für jede Hand.«
Das Kind griff danach und rannte zur Tür.
»Moment, nimm die ganze Packung mit. Sonst sind die anderen auch gleich hier.«
Tess klemmte sich die Kräckerpackung zwischen die Zähne und lief zur Tür hinaus. Ein Poltern ertönte, als sie auf der Treppe stolperte und hinfiel. Die beiden Schwestern spitzten die Ohren und warteten auf das Geheule, das jedoch ausblieb. Stattdessen hörten sie, wie sie aufstand und weiterging.
»Sie ist so groß geworden«, stellte Addie fest.
»Und wird mit jedem Tag exzentrischer. Jetzt will sie eine Katze.«
Wie Della das aussprach, klang es, als rede sie über eine Ratte.
»Oh, nein«, sagte Addie, ehrlich bestürzt. »Keine Katze.«
Della seufzte.
»Ich weiß. Sie bringt Bücher aus der Schulbibliothek mit nach Hause. Katzenbücher. Wie man eine Katze am besten versorgt.«
»Ach, herrje, Dell. Könnt ihr euch stattdessen nicht einen Hund anschaffen? Ein Kaninchen?«
Della schüttelte hilflos den Kopf.
Addie verzog angewidert den Mund. »Sogar ein Hamster wäre besser.«
»Nein, offenbar muss es eine Katze sein. Schon gut, ich füge mich ins Unvermeidliche. Mein Leben gehört nicht mehr mir. Dagegen kann man
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