Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Liebe in groben Zügen

Liebe in groben Zügen

Titel: Liebe in groben Zügen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: B Kirchhoff
Vom Netzwerk:
schilderte er seinen Krankenbesuch, wie er in fremder Wohnung die Spülmaschine eingeräumt habe, verklebtes Geschirr von Tagen, ja sogar gesaugt und Staub gewischt: alles, was Marlies zu viel geworden sei während der Chemo, und am Nachmittag soll sie ihn gebeten haben, nach Frankfurt zu fahren, sich ihren Mist nicht länger anzutun. Er fährt also los, ihr Wunsch sein Befehl, und bei Nürnberg will er plötzlich geweint haben, tatsächlich auf der Autobahn geweint und nur noch gehofft, dass sie am Abend auch schon zurück sei, er zu Hause, sie zu Hause, kochen, fernsehen und so weiter. Das hörte sie sich alles an in der Küche, fröstelnd vor Müdigkeit, und am Ende noch etwas Philosophie, sein halb erdachtes, halb angelesenes Zeug, wie man sich ein Leben lang fragen könne, wer man sei, hinter allem Gerede, oder was die Liebe sei, ohne darüber verrückt zu werden. Was denkst du, darf ich das wissen?
    Und sie nahm kein Wort davon ernst und glaubte ihm auch das Weinen bei Nürnberg nicht, sie hatte ihn nur ein einziges Mal wirklich weinen sehen, das war bei Kaspers Sterben, den Sekunden, die Kasper noch gelebt hatte nach dem ungenauen Schuss aus der Pistole des Carabiniere, Tränen von Lebewesen zu Lebewesen. Renz konnte einfach etwas behaupten und auch gleich daran glauben, während Bühl an etwas glaubte, aber den Mund hielt. Und überhaupt war nichts an Renz, das sie auch an Bühl gefunden hätte oder umgekehrt, auch äußerlich nicht, obwohl sie gleich groß waren, beide einen Schädel hatten, nur war bei Bühl alles gestreckt, bei Renz eher gestaucht, wie von sich selbst überladen. Am ähnlichsten zwischen beiden vielleicht noch der Teil, den Renz für eine Stütze seiner Reputation hielt, wie andere Männer auch, während Bühl ihn nur einsetzte, wie seine Hände, die Augen, die Stimme. Fast ein amüsanter Gedanke: Wenn sie im Dunkeln einen Teil der beiden hätte verwechseln können, dann diesen einen.
    Was ich denke? Ich denke, wir sind schon zu lange zusammen, rief sie über den Tisch wie über ein Spielfeld. Und was folgt daraus? Sie stand auf und holte ein Bier aus dem Kühlschrank; hinter ihrem Rücken statt einer Antwort nur leises Stöhnen, oder das Stöhnen war die Antwort, ja, wir sind zu lange zusammen, schon die Hälfte unseres Lebens, aber nur wenn es noch länger hält, war es das richtige Leben, sonst ein falsches. Sie machte das Bier auf und setzte sich wieder, sie trank und begann, Dinge auf dem Küchentisch, Gläser, Bestecke, Salzstreuer, Krümel, in eine Ordnung zu rücken, wie ein absurdes Geraderücken ihres Ansehens als Paar: das immer irgendwie zusammenblieb. Schläfst du mit ihr? Auf einmal diese polizeihafteste aller Fragen in Küchentischnächten, statt von sich und Bühl zu reden oder wenigstens einem anderen Mann, an den sie fortwährend dachte, aber wozu. Sie saß auch nicht nackt am Tisch oder ging nackt auf die Straße, nur um offen zu sein – und was sie nicht zeigen wollte, was sie für sich behielt, das war ihr stiller Krebs, an dem man nicht starb. Was weiß ich, sagte Renz, jetzt wahrhaftig etwas wie Tränen in den Augen, und sie winkte nur ab, danke, es reicht, und trank von dem Bier, die Flasche am Mund, und er fing sich mit einem Sprung zu Goethe, seinem großen Vorbild in Lebensdingen – Goethe, der erst weit in den Dreißigern, in Rom, den ersten Sex gehabt haben soll, mit einer zweifelhaften Frau namens Faustina, und das noch unter seinem Reisepseudonym Filippo Miller. Weil er auch als Unberührter schon so berühmt war! Renz füllte sein Glas, er hatte noch einen Wein geöffnet, die Hand zitterte ihm. Unberührt, auf dieses Wort war die Goetheschleife hinausgelaufen: bis zu seiner Kranken war er ein Unberührter, wenn man von der Tragödie mit Kasper absah. Sie fragte, ob es so sei, ob es ihn etwa erwischt habe beim Einreiben einer hustengeschüttelten Brust und gleich auch der Brüste mit Chinaöl, wenn er nachts und überhaupt der einzige Halt war für die Kleine in ihrem Zellchaos, ihr Lichtblick, ihre Zuversicht, der väterliche Lover, der all das nicht gesucht, nur gefunden hat, und jetzt dazu steht und dem sie dafür dankbar den Schwanz leckt – ist es so, rief sie, und Renz stemmte sich vom Tisch auf und ließ den Wein stehen und sie einfach sitzen, was auch ein Ja war, das leiseste, glaubhafteste Ja, das sie seit langem von ihm bekommen hatte, seit einem Abend in ihrer alten Frauen-WG, in der er sie, bis zu diesem Abend, regelmäßig besucht hatte, einem

Weitere Kostenlose Bücher