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Liebe in groben Zügen

Liebe in groben Zügen

Titel: Liebe in groben Zügen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: B Kirchhoff
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in der Stille zwischen Marlies’ Atemzügen, unterstützt von einer Maschine oder Apparatur und Kilian-Siedenburg versprach, zu kommen und vorher das Material zu schicken, sein letztes Wort beim Verlassen des Zimmers, und auf einmal war Renz allein, nur er und das Bett und die Geräte und vor den Geräten ein Kopf, der still zur Seite ging, sich wegwandte, als sei auch Sterben eine Form der Notdurft.
    Das Vogelzwitschern drang ins Zimmer, die beiden Fenster waren gekippt; um das Bett ein Geruch nach Zahncreme und Windeln, nach lauwarmem Tee. Woran würde er wohl sterben, wenn seine Zellen lang genug mitspielten? An gewöhnlicher Schwäche, nur welcher? Auch der Schwäche für ein liebes Wort, dem Warten darauf, also an Sehnsucht? Aber an Sehnsucht starb man höchstens im Film, und selbst da kam immer noch etwas dazu, ein provozierter Unfall, eine Überdosis, ein Duell. Wir passen nicht zusammen, sagt Vila bei jedem Streit. Und einmal sogar, bei den Dingen im Bett: Du bist mir nicht nah! Aber Tatsache ist: Sie sind seit Jahrzehnten zusammen, über ein halbes Leben erfüllt von dem, was nicht passt oder zu wenig Nähe hat. Vilas Kern, ein Rätsel. Das er immer noch lösen will. Sie ist seine Frau, aber er der Idiot im Hinblick auf sie. Während er bei Marlies schon gut dastand, als er sie in irgendwelchen Sendern für ihre Zigarette ins Freie begleitet hatte. Und als sie auf der ersten Fahrt, nachts in der flachen Landschaft vor Chioggia beim Anhalten an der Rotunde, mit der Fingerkuppe seinen Mund berührte, setzte die Filmmusik ein – ich will dich, weil ich dich brauche, ich brauche dich, weil ich dich will, Schluss. Er trat an das erhöhte Bett, an das Kopfteil der Kanülen und Geräte, er strich über das Strähnenhaar, das sie noch hatte waschen wollen, einmal, zweimal, dann ging er rückwärts aus dem Raum, ein alter Diener, der sich entfernt, und schloss leise die Tür, sein Schäufelchen Erde. Und war er stark in dem Moment, allein im Flur, noch die Klinke in der Hand? Eher nein. Er war nur Teil eines starken Bilds, Klinikflur, Innen/Nacht. Ihr Atem war noch durch die Tür zu hören, wie ein Geräusch aus dem Erdreich, und er lief vor dem Geräusch davon, zurück in das Besucherreich, auf die Terrasse mit Parkblick. Renz rauchte, an die Brüstung gelehnt, er machte sein Telefon an, einen Herzschlag lang in der Vorstellung, Marlies könnte ihm etwas auf die Mailbox gesprochen haben – bis morgen und fahr vorsichtig! Und er hatte sogar eine Nachricht, empfangen am frühen Abend, eine von seinem Mieter Bühl, zurück von einer Wanderung, die kleinen Orte oberhalb des Sees Richtung Norden in Stichworten, Pai di Sopra, Fano, Castello und das verlassene Campo, ein Efeutraum. Frage: soll der Efeu im Garten weg? Kurze Sätze mit ruhiger Stimme, und von ihm eine schriftliche Antwort, ebenfalls kurz, aber weniger bündig. Den Efeu nur von den Oliven nehmen, mit allen Wurzeln. Was macht Ihr Buch, Ihr Franziskus? War diesem Typ je eine Frau nah, hat er je geliebt?
    Wind kam auf, in den Kastanien ein Rauschen, Renz nahm sich noch eine Zigarette und zerknüllte die Packung mit den restlichen. Wer nicht raucht, lebt länger, ein Aufgeben und eine Aufgabe – sein Leben mit Vila besteht auch aus dem, was sie beide versäumt haben. Einen Sohn großziehen. Oder noch einmal einen Hund. Oder sich rechtzeitig trennen. Oder wenigstens zu irgendeinem Ufer aufbrechen, sich für irgendetwas einsetzen, für mehr als einen Kreisverkehr am Schweizer Platz. Sie hätten für etwas Großes streiten können und könnten es immer noch, sich zum Beispiel vor das US-Konsulat im Westend stellen, Tag und Nacht, und für die Freilassung von Bradley Manning demonstrieren, dem jungen Soldaten, der das Bordvideo von einem Hubschrauberangriff in Bagdad weitergegeben hat, das Abknallen von Leuten mit Kameras auf der Schulter und nicht mit Waffen, ja sogar von Kindern in Autos, hinter denen die noch Lebenden Schutz suchten. Manning hat sich mit seiner Tat dem Falschen anvertraut und wurde verraten, seitdem sitzt er in Einzelhaft, mit Anfang zwanzig lebendig tot, einer, der den Friedensnobelpreis verdiente. Das sollten sie tun, Vila und er, vor dem Konsulat demonstrieren, bis sie verhaftet werden. Oder auf Lampedusa ein Boot chartern, das Meer zwischen Afrika und dem Türspalt zu Europa abfahren, die Flüchtlinge retten, die schon Salzwasser trinken, sie in ihr Haus lassen, für den eigenen Wohlstand einstehen. Stattdessen stehen sie auf Wilfingers

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