Liebe in groben Zügen
versuchte mit dem Bild aus den Tiefen des Universums, nur kam dabei etwas ganz anderes heraus – zwischen ihm und Marlies lagen keine zwanzig Schritte, aber die zwanzig Schritte hätten auch die Strecke zu der neuen Galaxie sein können. Wie an ihr Bett kommen, mit welchem Schub – er wusste es nicht und tat das Heft zurück auf den Zeitschriftentisch, nahm sich ein Tiermagazin, er blätterte wieder von hinten, in Kleinanzeigen; eigentlich hatte er nun doch normalen Abendhunger, und es könnte auf die Bar in den Vier Jahreszeiten hinauslaufen, ein nächtliches Steak mit Cornelius, spätestens dort das Du, begleitet von dem Greis mit Künstlerschlapphut, die Finger matt auf den Tasten, ein mattes Klaviergetröpfel, als sei er schon tot und hätte abends nur Ausgang für ein paar Stunden. Welcher gute Mensch nimmt unsere Romy? Ein Rentnerpaar aus Freising, kinderlos, kurz vor dem Wechsel ins Altenheim, suchte jemanden für sein kleines Mischlingsweibchen (Strandhund aus La Palma, circa 8, grau, lebhaft). War er ein guter Mensch? Für Tiere eventuell. Er trennte die Anzeige heraus und schob sie in seine Brusttasche, als die Ärztin mit dem Headset hereinkam, jetzt in einem Kittel, so weiß, als wollte sie ihren Namen noch unterstreichen. Sie winkte dem Ex-Ehemann, und der beendete das Gespräch, und sie gab einen Bericht über Marlies’ Zustand, umgangssprachlich, bis auf das Wort Sterbephase. Sie können hier warten oder können in ihr Zimmer, sagte sie. Aber Frau Mattrainer ist schon weit weg – noch ein Ausdruck, der sich um Renz schnürte, und dabei hatte er früher mit Vorliebe Filme über den Tod besprochen. Keine dreißig war er und rauchte eine nach der anderen und hatte es mit jeder Volontärin, die mit ihm leere Nachmittagsvorstellungen besuchte, ein Schreiben voller Lebenslust über das Sterben im Film, etwa in Bergmans Schreie und Flüstern oder Dalton Trumbos Johnny zieht in den Krieg: vier ganze Spalten in der Rundschau über den jungen Soldaten, der nur noch aus Hirnmasse besteht, einem Bewusstsein, das nichts anderes will und fordert, als ausgelöscht zu werden, Tötet mich, tötet mich.
Die Ärztin hatte sich wieder zurückgezogen, aber es war immer noch etwas Drittes im Raum, ein fremdes Element, wie eine andere Art Atmen: Renz drehte sich um und sah Kilian-Siedenburg, die Brille im Haar, weinen, ein stiller Fluss, so hatte Katrin als Kind geweint, ganz für sich, ohne Trost zu verlangen, und dann wandte er sich auch schon ab und lief in den Flur und schloss die Tür hinter sich, als sei Weinen eine Form der Notdurft. Mein Gott – Renz hörte sich etwas sagen, mit dem er sonst nur eine Zeile füllte, wenn ihm nichts Besseres einfiel, etwa beim Finden einer Leiche im Wald, Bild zwei oder drei, Wald mit Wanderer und Mädchenleiche, Außen/Tag, dann kam ein Mein Gott!, und jetzt kam es aus ihm, da war er schon im Flur, erste Schritte zur Marliesgalaxie.
Auch entlang des Stationsflurs Drucke und Fotos aus Münchens strotzenden Jahren, die Villa Stuck in der Prinzregentenstraße, Titelseiten des Simplicissimus oder Franz von Lenbach mit Frau und Töchtern, die blonde Tochter wie Marlies als Kind – einmal hatte sie ihm im Bett ein Kinderfoto gezeigt, sie und ein schmucker Vater im Schwimmbad, schon damals ihr Blick unter schmalen Lidern. Die Tür zu Marlies’ Zimmer stand offen, und er trat ein wie er mit fünfzehn, sechzehn ein Kino betreten hatte, in dem ein Film ab achtzehn lief, Die Sünderin, Das Schweigen, Mondo Cane. Ihr früherer Mann stand an dem Bett, das ja gar nicht mehr ihr Bett war, sondern das der Geräte, er hatte noch immer die Brille im Haar und eine Hand auf der Bettdecke, die andere mit Daumen und Zeigefinger unter den Augen, und er murmelte etwas, in einem Ton wie Katrins Indios, wenn sie Sterbenden beistehen, sie hatte das aufgenommen, konnte es auch nachahmen, dann machte er kehrt und lief zur Tür, dort fast ein Zusammenprall, und Renz griff um die fremden Schultern, überraschend für beide und ohne Worte besser als mit: sein Szeneninstinkt, nur kamen dann doch ein paar Worte, halb Vorabend, halb Hauptprogramm, Cornelius, so ist das Leben, sagte er und ließ die Schultern los, die Antwort ein Lächeln und das Wiederaufsetzen der Brille, und Renz lud den früheren Mann von Marlies und noch früheren Freund seines Hausmieters an den See ein – irgendwann im Sommer, wenn es sich machen lässt zu unserem jährlichen Fest an Goethes Geburtstag! Ein beinahe lautes i-Tüpfelchen
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