Liebe in groben Zügen
Silvesterparty herum und feiern mit Leuten, die Hollywood nachäffen. Oder ziehen das Goethe-Vila-Renz’sche Jahresfest mit ihren Freunden durch. Und wenn sie alle um einen Tisch sitzen, reden sie über die Kinder und den letzten Urlaub, nicht über den kindlichen Moralisten Bradley in einer fensterlosen Zelle. Früher haben sie noch über Filme und Bücher geredet und manchmal auch über sich selbst, und es kam vor, dass einer weinte und die anderen still waren. Ein einziges Mal hatte auch er geweint, weil Vila sich an ihn gelehnt hatte, weinend, vielleicht sein bester Moment mit ihr. Jetzt weinten nur noch andere für ihn, sogar Marlies’ früherer Mann. Wer bin ich, wenn ich liebe, das war die Frage am Esstisch, da hatten sie alle noch keine Kinder, und irgendwann gab es nur noch die Kinder, was die interessierte: ihre Serien, ihre Games, ihre Models und Stars mit Sprüchen wie aus dem US-Hubschrauber. Gut ist, was reinhaut, schön ist, was nützt, alles ist jetzt. Das Schicksal seiner Eltern hieß Krieg, sein Schicksal heißt Banalität – oder verwechselte er nur den Verfall der Zeit mit dem Altwerden? Er war älter als der alte Franzose, der sich ein Zimmermädchen schnappt. Renz ging in die Lounge hinein, er legte sich mit Schuhen auf die Sitzlandschaft, als müsste er noch jederzeit an Marlies’ Bett stürzen können, und dabei wünschte er sich ihren Wechsel vom Koma ins Nichts. Niemand hat ja feste Vorstellungen vom Sterben, es gibt keine Infos, an die sich der Lebende halten kann; wer sich verflüchtigt, lässt den anderen ratlos zurück, darum beten wir ja: weil auch Gott sich verflüchtigt, bis auf das Wörtchen Gott, an das wir uns klammern. Als Kind war er gläubig, dann kamen die Filme, das Lesen, tausend durchredete Nächte; er weiß zu viel aus seinen Raucherjahren für einen Glauben ans Jenseits und das stille Hinüberwechseln auf die andere, ewige Seite. Marlies wechselt nicht hinüber, sie verreckt. Ihr beatmeter Atem klingt, als würde sie mit Schlamm gurgeln, das ist die Wahrheit. Und er hat sie, als heftig Atmende in seinen Armen, geliebt, mindestens in Lucca, auch eine Wahrheit, eine, von der nur sie beide wissen oder wussten – sie weiß es schon nicht mehr, er weiß es noch. Liebende schaffen sich ein Universum, in dem sie letztlich allein sind, der einzige Stern von unerträglicher Helligkeit. Er und Vila sind auch ein Solitär, da helfen alle Freunde nichts. Sie beide, das ist zu viel Helligkeit, auf jeder Schwäche. Aber eben auch Licht. Würde Vila ihn fragen, ob er sie liebe, womit nicht zu rechnen ist, er würde ja sagen. Ja. Noch eine Wahrheit. Aber je älter man wird, desto weniger Wahrheiten braucht es. Seine wichtigsten: dass es Katrin irgendwo gibt, an ihrer Flussschleife, und Vila, jetzt um die Zeit in ihrem Bett. Und dass es die kleine Reise mit Marlies gegeben hat. Aber es gibt auch die Wahrheit, dass er, wenn Marlies heute oder morgen stirbt, immer noch leben würde: für ihn die beruhigendste von allen, obschon es eine melancholische Beruhigung ist. Ja, er liegt hier in dieser Sitzlandschaft und ist damit auf der Welt und wird auch übermorgen und im Sommer noch auf der Welt sein, auch wenn dieser Gedanke, ich lebe, ich lebe jetzt, während Marlies stirbt, sofort der Vergangenheit zustrebt. Noch denkt er an das gurgelnde Atmen, und dann hat er schon daran gedacht, noch ist er wach, und dann sind es schon die Sekunden, die ihm nicht mehr gehören.
Renz kam erst wieder zu sich, als es Tag wurde, hinter den papierdünnen Vorhängen ein schwach rötliches Licht und auf einer Sesselkante Dr. Weiss, ohne Kittel, ohne Headset, in den Händen einen Schokoriegel. Sie begann gleich zu sprechen – oder hatte ihn durch Ansprechen geweckt, er war sich nicht sicher –, und in ihrer Stimme jetzt mehr Münchner Ton als am Abend, Ton für einen Bericht von den Stunden, die er verpasst hatte, anschaulich gemacht durch eine Uhrzeit, wie die Zeiteinblendungen in amerikanischen Serien, die für Logik und Tempo sorgen. Um fünf Uhr einundzwanzig, sagte sie, trat der Tod ein. Vorher war alles versucht worden, aber nicht nur ihr Herz hatte versagt – Angehörige wecken wir in solchen Fällen auch nachts. Möchten Sie die Tote sehen?
Ihrherz war das erste Wort, das ihn ganz erreichte, wie ein Wort: Ihrherz, das er ohnehin nicht sehen könnte. Nein, sagte er und kam von der Sitzlandschaft hoch und klopfte noch auf die Stelle, die seine Schuhe leicht eingedrückt hatten.
*
XVII
WAS zuerst
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