Liebe in groben Zügen
Augen sind zu, sie ist gefangen in Renz’ Bewegungen, den bekannten Wörtern, seinem Geruch; sie lässt ihn gewähren, Renz das alte vertraute Tier, das nicht davonläuft, das zu ihr hält, mit in jeder Scheiße steckt. Sein Werben tut gut, dazu die kindliche Dankbarkeit, dass sie ihn noch einmal, trotz allem, mit ihrem Mund, ihrem Schoß adoptiert. Sie ist ein Schwamm, der jeden Tropfen Liebe aufnimmt, jeden. Komm, sagt sie, komm jetzt, ihre einzigen Worte, vielleicht die ersten, seit er da ist, sie weiß es nicht, sie weiß nur, dass sie nicht anders kann, als mitzuziehen, und sich versündigt, nicht an ihm, nicht an Bühl, an sich selbst. Renz kämpft um den einen, besten Moment, sie sieht es von außen, sein Bemühen, auch in ihrem Interesse, seinen Kampf, also hilft sie ihm, Vila Caritas. Er muss ihre weiten Beine sehen, das eigene Mühen dazwischen, dazu ihren Blick, den Segen bekommen, das reicht für den einen Moment: dem immer auch das Ergreifende anhaftet, wie bei Kasper, wenn er sich endlich am Wegrand hingehockt hatte und durch sein Hundegesicht ein Beben ging. Danach beide wie erschlagen nebeneinander, nah am Schlaf; nur der Hunger lässt sie aufstehen. Sie essen am Hafen, an ihrem Tisch unter dem Gide-Zimmer, der erste Torri-Abend, vor ihnen ein ganzer schwellender Sommer. Und in ihr die Furcht, dass es der letzte Sommer am See würde, noch vor dem goetheschen Datum alles platzen könnte, dass sie ihre Zeit hier nie wiederfindet.
ALLE Liebenden in Bedrängnis, ob durch einen Dritten oder die Macht der Verhältnisse: Krieg, Vertreibung, Katastrophen, die großen Stoffe, oder einfach bedrängt durch das Alter, die schwindende Zeit, suchen nach Auswegen, und das oft buchstäblich, mit einer Reise, einer Wanderung, im Gebirge oder um einen See, dem Rückzug als Teil der Lösungssuche, als reale Fiktion, einem Stück Theater in freier Natur.
Der Wanderer Bühl, in Laufschuhen und Schwimmshorts, bei sich nur das Nötigste in einem Rucksack, Kleidung, Fernglas, Isomatte, Notebook, Kreditkarte, Papier und Stifte, trug dieses Theater mit sich herum, als gehöre es auch zum Nötigsten. Das Alleingehen – anders als geplant, zunächst auf derselben Seeseite Richtung Norden –, war das Stück Pathos, das gleichsam mitging. Die erste Übernachtung in der Kapelle von Campo, dann folgten rückwärtige Einzelzimmer, die auch zur Hochsaison nicht belegt waren, in Torbole, in Arco. Und nach Riva die andere, von der Morgensonne beschienene Seite, anfangs am See entlang, dem schroffen, unbewohnten Ufer, mit zwei Nächten in Felsnischen; die zweite ohne Proviant, nur mit Wasser und der Versuchung, sich als Unglücklichen zu sehen, ausgestreckt auf der Schlafmatte, über sich einen sternlosen Himmel: reichlich Platz für Vila, die Eigenheiten ihres Körper, runde Schultern, der bequeme Bauch, ihre Fesseln, die Waden. Sie mag es, wenn man ihre Kniekehlen küsst, sie mag es, wenn man sie ergründet, wieder und wieder. Er will wissen, warum es ihn gibt, sie will wissen, dass es sie gibt. Am nächsten Morgen zog er weiter Richtung Salò. In San Gaudenzi, steil über dem See, stärkte er sich mit einem weißen Käse, aus dem Milch quoll, einer Kugel frischer Bufala. Und in Gardone, schräg gegenüber von Torri, sah er durch sein Glas das Haus mit dem Dachzelt. Er wohnte im alten Grand Hotel, auch dort gab es noch Zimmer; am späten Abend der See schwarz und vor dem helleren Himmel mit Mondsichel die Franziskusinsel, und er sprang vom Hotelsteg ins Wasser, in eine absolute Freiheit, wie mit Cornelius, wenn sie in die Schweiz geschwommen waren.
Die letzten heißen Junitage hatten den See erwärmt, eine flüssige Haut, er schwamm mit großen Zügen. Ich denke an dich: Vilas einzige Nachricht, jeden Tag, schon nah am Verrückten, weil ja kaum noch Raum blieb, an sich zu denken, oder weil an sich und den anderen denken ein und dasselbe war. Wollte er das von ihr? Seine Mittagsstunden ohne ihr Atmen sind dunkel, dunkle Kapitel mit ihm als einziger Figur. Vor dem Nachthimmel die Zypressen auf der länglichen Insel: wie Federkiele; schwimmen ist einfach, viel einfacher als das Leben an Land, dort hat ihn wenig getragen, bis Vila auftauchte. Er weiß nicht, was er von ihr will, sie soll einfach da sein. Unter den Füßen plötzlich moosiger Fels, und er macht noch zwei Züge, dann greift er in die Zweige eines überhängenden Oleanders und zieht sich auf festen Boden, geht herum um den Strauch, vorbei an einer Tafel, die das
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