Liebe in groben Zügen
Abend über seine Begleiterin hergefallen war, sich auf ihr schlaftrunkenes Gesicht, die hellen, nur leicht abgewinkelten Beine, auf ihren Mund und ihr Geschlecht gestürzt hatte: ein alter Satyr, kein älterer Liebhaber. Er wollte sich Marlies einverleiben, so, wie sie im Moment noch war, und sich die Angst vor ihrem Wenigerwerden nehmen, dem Haarausfall, ihrem Abmagern, den Erstickungsanfällen – er hatte sich das alles zusammengereimt, auch ohne Internet, ein Grauen nach dem anderen. Bebend in sich wie beim ersten Mal mit der Bühnenbildnerin vor bald fünfzig Jahren, hatte er auf seiner kranken Geliebten gelegen, einen Arm unter ihrer Kniekehle, und erlebte ein noch höchst gesundes Mittun, wenn nicht An-ihm-Vorbeiziehen, mit einem Lachen, als seine Kraft nachließ und das Organ, das er so oft lieblos gemalt hatte, ihn herauspresste wie ein weiches geschältes Ei.
Bist du noch da? Vilas Stimme, als stünde sie vor dem Hotel, und er erzählte, wo er war, weil es sich von der Route so ergeben habe, ein halber Ehrlichkeitsanfall. Aber wir fahren heute ab, sagte er noch, da war die Verbindung schon unterbrochen, er hatte das Geräusch gar nicht gehört. Renz schloss seine Jacke, eine kalte Oktobernacht. Er blieb noch auf dem Dach und sah sich dort, die Hände im Nacken: ein Mann, der nicht weiterweiß. Erst als unten ein Müllauto vorfuhr, noch bei Dunkelheit, kehrte er zurück ins Zimmer. Marlies schlief, das Betttuch war verrutscht, ein Bein und eine Hinterbacke sahen hervor, die Rundung kleiner als die von Vila, kleiner und unschuldiger. Er legte sich neben sie, den Kopf an dieser Rundung mit Falte, und kam sich plötzlich selber krank vor: keine Krankheit, an der man elend starb, eine, mit der man elend lebte. Sie würden ohne Pause zurückfahren, dann tagsüber an der neuen Serie sitzen, sein Titelvorschlag: Der große See – für sie zu trocken. Und abends der Kamin und irgendwann die Frage, wie das alles weitergehen sollte, nicht in der Serie, sondern mit ihnen, Was machen wir jetzt mit uns?, das würde sie wissen wollen. Marlies drehte sich, ihre oben liegende Hand tastete nach seinem Kopf, er hörte sie atmen, ein zerhacktes Geräusch. Von der Basilika das erste Läuten, und er bot dem Gott, an den er zuletzt als Konfirmand geglaubt hatte, eine Art Deal an: dass er mit Vila alt werden wollte, wie auch immer, wo auch immer, wenn Katrin ihr Kind behält und die Person neben ihm im Bett das Leben – oder wenigstens Letzteres. Wo warst du, fragte Marlies, hast du mit deiner Frau telefoniert? Sie nahm seinen Kopf in die Arme, und er drehte ihn schwach hin und her.
Und keine Stunde später saßen sie im Wagen, eine Flucht aus Assisi. Bei Perugia ging es auf die Autobahn, vorbei am Trasimenischen See, wo sein Herz gepocht hatte bei der Mittagsrast, vorbei an Florenz und Bologna. Am frühen Nachmittag waren sie im Haus, der abgereiste Mieter hatte alles aufgeräumt; nur das Geld in Moby Dick bewies, dass er anwesend gewesen war. Der ist jetzt dort, wo wir herkommen, sagte Renz (alles andere für ihn: unvorstellbar). Er sah Bühl durch Umbrien ziehen, im Rucksack Trockenobst, Schlafmatte und seine losen Blätter, ein Weltenferner, und er sah Vila durch Havanna laufen, tapfer inmitten des Verfalls, Tag und Nacht auf der Suche nach Katrin, während in ihrem Haus eine andere gerade Tee aufsetzte, eine, die sich schon auskannte mit der Küche. Renz schaute Marlies beim Teemachen zu, er stand mit dem Rücken zu Vilas und seinen Büchern. Und den Tee gab es dann im früheren Kinderzimmer auf dem jetzigen Gästebett bei Mozarts Klarinettenkonzert; ihrer beider Pilotfilm ging damit zu Ende, nun kämen die einzelnen Folgen.
WAS machen wir jetzt mit uns? Vilas Frage hätte auch Marlies’ Frage sein können, nur ohne die kleine, aber wichtige Abweichung, die ihr nach schlechter Nacht auf Renz’ Anruf hin morgens im Bett einfiel: Was machen wir jetzt aus uns? Und das beschäftigte sie bis zum Mittag zwischen Halbschlaf und unruhigem Liegen und ließ sie auch später auf einem der Sofas in der Lobby nicht los. Sie aß dort ein Chicken-Sandwich, zu erschöpft, um sich der Musikanten zu erwehren; die spielten und sangen nur für sie, eine Frau mit verknicktem Haar, in die Sofaecke gekauert, auch nicht imstande, sich ihrer selbst zu erwehren. Das alte Guantanamera, es brach über sie herein wie das Boney-M.-Zeug in der Silvesternacht, in der sie Renz den Schnurrbart abgenommen hatte.
Sie ging wieder aufs Zimmer und legte
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