Liebe in groben Zügen
Geburtsstunde als Lehrer. Wie Franz eine Geburtsstunde als singender Prediger hatte, auf der Straße vor dem väterlichen Laden, all die feinen Stoffe mit seiner Kutte verhöhnend, Anfang eines Lebens, das am Ende nicht verloren war, auch wenn ihn Bruder Esel kaum noch tragen konnte.
Herbstanfang um zwölfhundertsiebzehn, der Poverello, eine Hand über den wunden Augen, zieht weiter um den Benacus. Sieht er den See überhaupt? Vielleicht sein dunkles Oktoberblau, davor das Weiß der Kiesel. Es hat ihn nach Torri zurückgezogen, in der Mittagssonne sucht er dort den Schatten vor einem Speicher am Hafen. Keiner erkennt den kleinen Mönch, Fischer überlassen ihm Abfälle, Köderreste und Innereien, auch einen Barschkopf, die Möwen lauern schon. Soll er sich aufraffen, tanzen und singen, damit es den Leuten wie Schuppen von den Augen fällt, soll er all seine Wörter für den Gekreuzigten ausrufen, Herr des Universums, Menschensohn und Leidensfürst, du Gesegneter, Höchster, Geliebter, benedictus, altissimus, dilectus? Franz fühlt sich zu schwach, zum ersten Mal. Auf bloßen Knien, wie ein verletztes Tier, kriecht er zum Wasser, trinkt zwischen den Steinen. Übermorgen will er in Verona sein, kommende Woche in Bologna. Reisende sagen, die Brüder dort hätten ein neu erbautes Haus erhalten: Dann würde er um diese Stadt einen Bogen machen. Der Höchste hatte gar kein Haus. Er senkt den Schädel ins Wasser, er wäscht sich den Schorf ab und uriniert im Liegen, die Krankheit aus dem Nildelta hat seine Blase erreicht. Er dankt für das Wasser, er kühlt seine Augen. Und Momente lang sieht er etwas, hell und dunkel zugleich, ein helles Gesicht, umrandet von Haar, das herabfällt, auf dem Haar Bündel von Weißwäsche. Die, die ihn hat zurückkehren lassen, steht vor ihm, ihre Hände stützen das Bündel. Wer er sei. Sie erkennt ihn nicht wieder, so sehr hat das Leben an ihm gezerrt. Un uomo, antwortet er, keine Lüge, aber auch nicht die Wahrheit. Und dann erzählt er von den Zitronenschößlingen, die er auf dem Hinweg eingesetzt hat, er, der Wanderer, der vor Jahr und Tag schon einmal hier war, sie nach dem fruchtbarsten Boden gefragt hat, und sie bekreuzigt sich, aber aus Angst vor ihm, und geht davon. Er hört ihre Schritte, wie sie schneller werden, und tritt ans Hafenbecken. Im Flachwasser flitzende Fische, Schatten, die ihn anzuspringen scheinen; noch nie zuvor hat er sich seiner faulen Zähne geschämt, der Fetzen am Leib, seines Gestanks. Franz wendet sich um, er sieht sie noch, die Hände am Bündel auf ihrem Kopf, darunter das Haar, dann etwas Helles, Fließendes, als hätte sie sich auch umgewandt – sein Wunsch. Den Lieblingsbruder Stephan hat er für solch einen Wunsch in den winterlich eisigen Tiber geschickt, ihm die Gedanken an alles Weiche, Süße ausgetrieben. Franz hebt einen Arm, er winkt, Ich bin es, ruft er auf Französisch, Le petit d’Assisi!, und die junge Wäscherin fällt auf die Knie, ihr Bündel kollert in den Staub, er hat sich hinreißen lassen, seine Strafe: ein Blick in die Sonne. Der See ist noch zu warm im Oktober, um den Leib mit Kälte zu strafen, erst ab November kann man sich reinwaschen darin. So lange sollte er noch bleiben, nur etwas weiter südlich auf der Landzunge, die er beim Hinweg besucht hat, an der Spitze eine Kapelle für den heiligen Vigilio. Sag deinem Geringsten, was er tun soll, ruft er dem Höchsten zu, und der schickt ihm als Antwort den Schlaf.
DAS Liebessehnen, ob bei Vila und Bühl in Havanna, ob bei Renz und seiner Begleiterin in Assisi oder bei Franziskus vor achthundert Jahren, besteht aus Warten, Warten auf den einen, erlösenden anderen, auf sein Ja und Amen zu allem; und was kann eine Geduldsprobe erträglicher machen als der Schlaf. Bis man erwacht und das Ganze von vorn anfängt.
Renz war von einem Windstoß gegen den Fensterladen geweckt worden, tief in der Nacht, er hatte den Laden geschlossen und war dann so hoffnungslos wach, dass er nicht mit sich allein sein konnte. Also zog er sich an und ging auf die kleine Dachterrasse des Hotels, um Vila anzurufen. Er erwischte sie in ihrem Zimmer, nach zehn leisen Freizeichentönen, als hätte sie schon geschlafen oder gezögert, das Gespräch anzunehmen, Ich bin es, sagte er, auch wenn sie seine Nummer sehen konnte, und von ihr nur ein Achja, dann stilles Abwarten, im Hintergrund Gebrumme (ein Generator auf der Straße), und Renz in der Versuchung, sich Luft zu machen, zu erzählen, wie er am späten
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