Liebe ist der größte Schatz
das Haus bei Nacht zu durchsuchen, solltest du äußerst vorsichtig vorgehen.“
„Wäre es dir lieber, wenn ich ihm ein Messer an die Kehle setze?“
„Würdest du ihn umbringen?“, fragte Miriam bestürzt zurück.
„Nein, natürlich nicht“, erwiderte Emerald und schluckte ihren Verdruss hinunter. Himmel, glaubte Miriam denn wirklich, sie wäre fähig, einem ahnungslosen Mann die Halsschlagader durchzuschneiden? Sie sank zurück in die Polster.
„Beau hat ein paar dumme Fehler begangen, Emmie. Und der größte war, dass er dich nicht gleich nach England geschickt hat, als deine Mutter euch verließ.“
„Ich finde, du urteilst manchmal zu streng über Vater …“, begann Emerald, doch Miriam schnitt ihr das Wort ab.
„Du warst damals erst sechs Jahre alt, und er befand sich mitunter monatelang auf hoher See.“
„Ich hatte Azziz und St. Clair.“
„Pah! Das Haus war viel zu groß, und Azziz sprach damals kaum ein verständliches Wort Englisch. Bist du denn wirklich der Meinung, dass du angemessen erzogen wurdest?“
„St. Clair war mein Zuhause“, antwortete Emerald ungeduldig, denn dieses Gespräch führten sie nicht zum ersten Mal.
„Dein Zuhause? Mit einer Schar vergnügungssüchtiger Kurtisanen im Salon, die Beau mitzubringen pflegte, und seinen zahllosen Trinkgelagen in den Nächten?“
„Ihm hat meine Mutter gefehlt.“
„Ich vermute, es war eher ihr Geld.“
Emerald runzelte die Stirn. Diese Bemerkung hörte sie zum ersten Mal. „Meine Mutter war wohlhabend?“
Miriam erbleichte. „Ich habe Beau versprochen, nicht darüber zu reden. Er wollte, dass du frei bist von den Einschränkungen und Extravaganzen der hiesigen Gesellschaft, und ließ mich Stillschweigen geloben.“ Sie rutschte unbehaglich auf ihrem Sitz hin und her und bekreuzigte sich. Emerald bemerkte, dass der Tante Tränen in die Augen gestiegen waren. „Er war ein Mann, der manchmal zu viel von einem verlangte – auch von mir.“
„Ich weiß nicht einmal ihren Namen, Miriam. Kannst du mir den wenigstens sagen?“
„Evangeline.“
Emerald erschrak. „Evangeline“, flüsterte sie ehrfürchtig. „Das klingt, als wäre sie ein Engel gewesen.“
„Es war nicht leicht für deine Mutter, an einem Ort fernab der englischen Heimat zu leben – obendrein mit einem Ehemann, der so eigenwillig und unberechenbar war wie Beau. Aber er war dein Vater und mein Bruder. Und da man nicht schlecht über die Toten reden soll, schweigen wir lieber. Gott hab ihn und seine Gattin selig.“
Als die Stille sich hinzog, wusste Emerald, dass sie nicht mehr erfahren würde, und so bogen sie ohne ein weiteres Wort in die Auffahrt nach Falder ein.
Falder war eine Offenbarung, ein hemmungsloses großartiges Durcheinander von Stilen und Formen. Das Anwesen lag auf einer Anhöhe über einem Fluss und war umgeben von einer wundervollen Graslandschaft. Der Herrensitz, halb schottisch, halb englisch in seiner Architektur, dominierte die Landschaft, soweit das Auge reichte. Der Bau zeugte nicht nur vom Reichtum seiner Besitzer, sondern ließ auch erkennen, dass eine altehrwürdige Familie seit Jahrhunderten darin gelebt hatte und stets ihren Teil zum Erhalt des Gebäudes beigetragen hatte, wobei jede Generation dem Geschmack ihrer jeweiligen Zeit gefolgt war.
In Anbetracht der Weitläufigkeit und Pracht des Hauses konnte Emerald nur hoffen, dass der Duke nicht vorhatte, in den nächsten Tagen eine große Gesellschaft zu geben. Allein die Aussicht, sich tagelang verstellen und oberflächliche Konversation machen zu müssen, setzte ihr zu.
Eine Schar eilfertiger Dienstboten kam ihnen entgegen, um sie willkommen zu heißen. Nachdem man ihnen aus der Kutsche geholfen hatte, hakte Emerald sich bei ihrer Tante unter und betrat zusammen mit ihr die elegante Eingangshalle, wo ein Dienstmädchen sie in Empfang nahm, um ihnen ihre Zimmer zu zeigen.
Asher Wellingham erwartete sie anschließend im Blauen Salon. An seiner Seite stand ein hochgewachsener, freundlich aussehender Gentleman.
„Wie war die Reise?“, fragte der Duke in förmlichem Ton.
„Überaus angenehm, danke, Euer Gnaden.“ Emerald führte Miriam zu einem Stuhl nahe des Kamins und legte ihr eine Decke über die Knie, als sie Platz genommen hatte. Die Tante sah blass und müde und alt aus – wie eine Frau, deren Lebensgeister unter bedrückenden Familiengeheimnissen erstickt waren.
Miriam war ihre einzige noch lebende Verwandte außer Ruby. In der ihr fremden Umgebung von
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