Liebe ist der größte Schatz
ausruhen zu können. Miriam war im Zimmer nebenan untergebracht. Sie hatte über Kopfschmerzen geklagt und sich bereits zu Bett begeben. Emerald konnte nur hoffen, dass die Tante sich keine Erkältung oder eine ernsthafte Erkrankung zugezogen hatte.
Sie ging zu den hohen Fenstern und schob die Vorhänge beiseite. Strahlender Sonnenschein drang ins Zimmer, und als sie auf den Balkon trat, konnte sie am Horizont das Meer sehen. In der Sonne glitzerte es wie tausend Diamanten.
Sie hörte Hufgeklapper und beugte sich über die Balustrade, um einen Blick nach unten zu werfen. Asher Wellingham kam zu Pferd um die Ecke getrabt. Hastig zog Emerald sich in ihr Zimmer zurück und beobachtete durch die Scheiben, wie er den Teich vor dem Haus umrundete. Die hohe elegante Statur des stattlichen Wallachs spiegelte sich auf der glatten Oberfläche des Wassers wider und warf einen langen Schatten, als er anschließend in die Allee einbog.
Mit klopfendem Herzen wandte Emerald sich um und sank auf das Bett. Sie musste Kraft schöpfen für das bevorstehende Dinner und ihre nächtliche Suche nach dem Spazierstock.
Zum Abendessen erschien der Duke of Carisbrook ganz in Schwarz gekleidet. Vermutlich hatte er ein Bad genommen, denn sein dunkles Haar glänzte ein wenig feucht. Es reichte ihm fast bis auf die Schultern und war ungewöhnlich lang für einen Gentleman des ton, indes nicht lang genug, um es zu einem Zopf zusammenzubinden. Emerald musste sich eingestehen, dass sie ihn nie zuvor so anziehend gefunden hatte wie in diesem Augenblick.
Im Speisesalon rückte Asher ihr den Stuhl zu seiner Linken zurecht. Seine Schwester hatte die Rolle der Gastgeberin übernommen, da die Dowager Duchess noch immer unpässlich war. Lucinda nahm den Platz am Kopfende der Tafel ein, während Taris Wellingham seinem Bruder gegenübersaß. Ein älteres Ehepaar aus der Nachbarschaft vervollständigte die Dinnergesellschaft. Miriam hatte sich wegen ihrer Kopfschmerzen entschuldigt und sich das Essen nach oben bringen lassen.
„Sind Sie denn mit Ihrer Unterbringung zufrieden, Lady Emma?“, wollte Lucinda wissen, als der erste Gang serviert wurde.
„Es ist ein zauberhaftes Zimmer, und ich kann von meinem Balkon aus sogar das Meer sehen“, erwiderte sie und bemerkte verunsichert, dass Asher sie durchdringend anblickte. Er wirkte müde, und es entging Emerald nicht, dass er ein Glas Wein nach dem anderen leerte, selbst als Lucinda einem der Lakaien bedeutete, dem Duke nicht nachzuschenken, sondern ihm eine Karaffe Wasser hinzustellen. Doch nach klarem Wasser schien Asher nicht zumute zu sein.
„Lady Emma kommt aus Jamaika“, bemerkte er, als Stille einkehrte.
Der ältere Gentleman, der ihr als Mr. Bennett vorgestellt worden war, nickte zustimmend. „Ich war einmal dort – vor sehr langer Zeit. Kannten Sie eine Familie namens De la Varis?“
„Nein, ich glaube nicht. Mein Vater war gebrechlich, und wir haben selten das Haus verlassen“, erwiderte Emerald und nahm sich insgeheim vor, noch heute Abend in ihr Tagebuch einzutragen, welche Erfindungen und Lügen sie bislang erzählt hatte, um nicht den Überblick zu verlieren. „Mein Onkel und meine Tante lebten nicht weit von uns, und ich hatte natürlich Liam, meinen Vetter“, führte sie weiter aus, als der Mann sie fragend ansah.
„Und Ihre Mutter?“
„Oh, sie war eine wunderbare Frau. Sie hieß Evangeline.“ Emerald sprach den Namen liebevoll aus, während sie das Bild einer blonden Schönheit, die ihrem kranken, aber attraktiven Gatten tapfer zur Seite stand, vor ihrem inneren Auge heraufbeschwor. Sie lächelte. Ihre Welt war immer mit Fantasiegestalten bevölkert gewesen, nachdem ihre Mutter aus Jamaika fortgegangen war und ihr Vater Frauen mit nach Hause brachte, die darauf bestanden, dass Emerald sie Mama nannte.
„Dann ist Liam in Ihrem Alter?“, erkundigte Lucinda sich. Von allen Wellinghams war sie wohl die neugierigste.
„Nein, er ist ein wenig älter“, antwortete Emerald vorsichtig und rief sich in Erinnerung, wie viele Kinder sie ihm angedichtet hatte.
„Liest er gern, Lady Emma?“
„Ob er gerne liest?“, wiederholte sie alarmiert.
„Ich vermute, meine Schwester spielt auf die Bücher in Ihrem Gesellschaftszimmer an“, erklärte Asher. Als Lucy eifrig nickte, sah er Emerald mit gespannter Aufmerksamkeit an. Die Antwort schien ihn genauso zu interessieren wie seine Schwester. „Mein Eindruck von Miriam ist nicht der einer Dame, die sich dem Studium arabischer
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