Liebe ist der größte Schatz
Wellinghams der Bücherfreund war, und kam zu dem Schluss, dass es Asher sein musste. Die Vorstellung, wie er in diesem Ledersessel vor dem Kamin saß und die Literatur studierte, zauberte ein Lächeln auf ihr Gesicht.
Ein niedriges Regal bei der Tür fiel ihr ins Auge, an dessen Seite mehrere hohe Papierrollen lehnten. Gleich daneben befand sich eine Nische, in der, wie Emerald zu ihrer Freude erkannte, ein halbes Dutzend Schirme und Spazierstöcke abgestellt waren.
Ihr Herz begann zu hämmern. Sollte es wahrhaftig so einfach sein?
Mit angehaltenem Atem nahm sie die Stöcke einen nach dem anderen in die Hand und hielt sie in das durch die Terrassentür fallende Mondlicht, doch der ihres Vaters war nicht darunter. Auch in den beiden angrenzenden Räumen, die sie als Nächstes durchsuchte, wurde sie nicht fündig. Emerald wusste, dass mit jeder Minute, die sie weitermachte, die Gefahr, entdeckt zu werden, größer wurde. Schon jetzt waren Geräusche aus dem Küchentrakt zu vernehmen, und es würde nicht mehr lange dauern, bis die Dienstboten kamen, um Feuer zu machen. Geschwind durchquerte sie den Korridor und huschte in den Raum gegenüber.
Es war ein hübscher kleiner Salon, dessen eine Wand eine Reihe hoher Fenstertüren zierte. Emerald blieb stehen, und plötzlich fiel ihr Blick auf das Porträt über dem Kamin. Es zeigte den Duke of Carisbrook, wie sie im ersten fahlen Dämmerlicht des Morgens erkannte, und neben ihm eine Frau. Emerald trat näher und entdeckte einen Schriftzug am unteren Rand des Gemäldes. Als sie ihn entziffert hatte, wusste sie, dass es sich bei der abgebildeten Dame um Melanie, Duchess of Carisbrook, handelte.
Ashers Gemahlin. Eine rothaarige Schönheit mit mitternachtsblauen Augen. Emerald konnte sich von ihrem Anblick nicht losreißen. Was war mit ihr geschehen? Wo war sie? Sie strich mit dem Finger über einen pastenartig aufgetragenen Farbstreifen in Melanies Brokatrock und trat zurück. Asher Wellingham neben ihr mutete wesentlich jünger an als jetzt, so jung wie seine Gattin, und es war unübersehbar, dass er sie sehr geliebt haben musste. Emeralds Blick fiel auf Melanies Ehering. Es war derselbe saphirbesetzte Reif, den Asher an seinem Finger trug.
Das Geräusch sich nähernder Schritte im Korridor ließ sie aufschrecken. Lautlos öffnete sie eine der Fenstertüren und schlüpfte ins Freie.
Asher lehnte sich in den Türrahmen und beobachtete, wie Emma Seaton mit der Geschicklichkeit eines erfahrenen Diebes durch die Glastür verschwand. Sie hatte es verstanden, sich geräuschlos zu bewegen wie eine Katze, und zunächst war er tatsächlich davon ausgegangen, ein Einbrecher habe sich Zugang zu seinem Haus verschafft. Erst jetzt, als das Licht des heraufdämmernden Morgens ihr Gesicht erhellt hatte, war er eines anderen belehrt worden.
Was zum Teufel konnte sie hier gesucht haben? Asher durchquerte den Salon, um auf irgendeinen Hinweis zu stoßen, und blieb stehen, wo sie gestanden hatte. Sein Blick fiel auf das Gemälde, und das Herz zog sich ihm zusammen. Das Hochzeitsporträt war kurz nach ihrer Rück kehr aus den Flitterwochen in Schottland gemalt worden. Beim Jupiter, dachte er erstaunt. Seit seiner Entstehung ist so viel Zeit ins Land gegangen, dass ich mich kaum wiedererkenne. Mit einem unterdrückten Fluch wandte er sich ab und trat ans Fenster. Ein dunkler Schatten huschte um die Ecke des Westflügels. Asher konnte kaum glauben, was er gesehen hatte.
Wer war sie?
Eine Diebin? Eine Räuberin? Oder womöglich etwas noch viel Schlimmeres?
Plötzlich kam ihm ein beunruhigender Gedanke: Hatte Lucinda ihren Retter nicht als groß und schlank und ganz in Schwarz gekleidet beschrieben? Und besaß ihr vermeintlicher Retter nicht den gleichen Akzent wie Emma Seaton?
Verflixt, es gibt überhaupt keinen Liam Kingston!, ging es Asher durch den Kopf. Sie war es, die seine Schwester vor dem Ruin bewahrt hatte. Die Countess of Haversham war sichtlich befremdet gewesen, als Emma angefangen hatte, von ihrem Cousin zu sprechen. Jetzt kannte er den Grund.
Er musste beinahe lachen über Emmas List und war schon im Begriff, sich auf den Weg zu ihrem Zimmer zu machen, um sie mit seinem Verdacht zu konfrontieren, als ihm ein anderer Gedanke kam.
Sie hatte Lucinda gerettet.
Und obwohl seine Schwester eine Fremde für sie gewesen war, hatte sie ihr Leben aufs Spiel gesetzt. Er erinnerte sich an den Bluterguss auf ihrer Wange und ihre Verlegenheit, als er sie darauf angesprochen hatte. Und
Weitere Kostenlose Bücher