Liebe ist stärker als der Tod
Paris. Nicht nach Versailles oder St. Denis, sondern in den Süden. Salzluft, die hämmert in die Drüsen!«
Man wußte gar nicht, daß der einäugige, mickrige Ponpon ein solches Ferkel war.
Im Mai – Paris stand in voller Blüte, und es war das Paris, von dem man träumt, das man besingt, das man in den Lenden spürt, das den Mädchen unter den Röcken juckt, es war das Paris, in dem Revolutionen und Liebe zu Einheiten verschmelzen, die Champs-Elysées und die großen Avenuen und Boulevards in Duftwolken schwelgen und der Himmel über dem Dächermeer wie Seide ist – in diesem Mai sagte Pierre zu Ev:
»Nächsten Monat fahren wir in die Provence. Es wird Zeit.«
Er sagte es, nachdem er am Morgen, als Ev noch schlief, sich nackt vor den Spiegel gestellt und betrachtet hatte. Man sah nichts an seinem Körper, nur die Augäpfel waren gelber geworden. Aber er dachte daran, daß seit Mitte Januar viermal eine kurze Zeit über ihn gekommen war, in der er geglaubt hatte, sein Flehen zu dem neu entdeckten Gott sei unerhört geblieben. Es war ein Glück, daß nie Ev in der Nähe gewesen war und daß er sich verkriechen konnte wie ein streunender Hund … einmal sogar in den Eingang einer Weinkellerei, wo er sich hinter einen Stapel leerer Rotweinfässer gehockt hatte, die Hände gegen den Leib gepreßt, und dann atemlos darauf gewartet hatte, wie es ist, mit vollem Bewußtsein zu sterben.
Aber anscheinend gab es das nicht. Sterben ist etwas Grausames, aber das letzte Stück, das Handauflegen des Todes, muß etwas Friedliches sein. Es hat noch keiner davon erzählen können, aber er glaubte daran.
»Wann fahren wir?« fragte Ev und küßte ihn. Sie war, wie jeden Morgen, nackt wie Pierre, und als sich ihre Körper jetzt berührten, warme, nachtdurchglühte Haut auf ebenso warme, mit wohliger Hitze gespeicherte Haut, floß kein erotischer Strom ineinander und wirkte wie eine atomare Explosion … sie spürten sich, waren froh darüber und dankbar, daß es den anderen gab. »Genau am 22. Juni.«
»Warum das?«
»Der 23. ist ein Sonntag. Ich möchte mit dir – zum erstenmal nach fünfzehn Jahren – wieder die kleine Glocke eines provençalischen Dorfes hören, wenn sie sonntags die Bauern in die Kirche ruft.« Er ging zum Fenster und blickte hinaus. Der Morgen lag golden über den Dächern. Gegenüber bei der kleinen Hure war ein Sonderkunde, Tarif ›Ganze Nacht‹. Bei offenem Fenster – wie immer – lagen sie im Bett und schliefen fest. »Vor fünfzehn Jahren stand ich an diesen Kirchen und kassierte als unheilbarer malender Epileptiker genug Francs, um leben zu können. Den herumstrolchenden Jungen kannte man überall, und einmal mußte ich einem Pfarrer im Pfarrhaus privat vorführen, wie man einen stilechten Epileptikeranfall durchspielt. Ich durfte daraufhin drei Wochen bei ihm als Meßdiener bleiben, bis ich wieder ausriß. Ich war nicht geboren für ein Zimmer mit vier Wänden …«
»Armer Liebling! Und jetzt?«
»Ich bin fünfzehn Jahre älter, Ev. Und ich habe dich!«
»Und du bist bekannt als Maler. In zwei Jahren bist du reich. Kennst du die Höhe deines Bankkontos?«
»Nein. Es interessiert mich nicht. Es gehört alles dir –«
»Du bist verrückt, Pierre!« Sie lief zu ihm und stellte sich neben ihn an das Fenster. Gegenüber war die kleine Hure aufgewacht, weckte ihren Partner auf Pariser Art und tat wirklich etwas für ihr Honorar. Ein ehrliches Mädchen. »Es sind bis gestern 134.672 Francs. Dabei hat Callac noch vier Rechnungen ausstehen. Wir sollten mit dem Geld etwas unternehmen. Das meint auch Callac.«
»Überleg dir, was du damit tun willst, Ev.« Er wandte sich vom Fenster ab. Die Übungen der kleinen Hure waren anregender, als er sich eingestehen wollte. Man kann nicht alles in sich unterdrücken. »Mir ist alles recht. Kauf Madame Coco das Haus ab …«
»Dieses Haus hier?«
»Warum nicht? Es ist eine Welt, die überall ausgestorben ist, nur hier lebt sie noch. Ein Paradies im Mittelpunkt der Hölle. Hier habe ich dich schlafend die Treppe hinaufgetragen, und damit hat alles begonnen. Eigentlich ist dieses Haus unbezahlbar. Kauf es, Ev.«
Es war natürlich unmöglich, das Haus in der Rue Princesse zu kaufen. Erstens behauptete Madame Coco, sie sei nicht die Besitzerin, sondern nur die Concierge und führe die Mieten auf ein Konto ab, von dem sie nur die Nummer kannte, und zweitens – das wußte keiner, nicht einmal Callac – hatte sie das Haus längst notariell auf Pierre und
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