Liebe ist staerker als Haß
einer Frau, die ihm ein Dutzend oder mehr Söhne schenken würde.
Am Grab ihrer Mutter empfand Anne nichts als abgrundtiefen Haß auf den Vater. Er hatte ihre Mutter umgebracht, nicht anders, als hätte er ihr das Messer an die Kehle gesetzt.
Nach dem Begräbnis und der Verlobung der Schwester hatte Anne ihrem Vater den Krieg erklärt. Ihr eigenes Schicksal war ihr fast gleichgültig geworden. Deshalb wagte sie es auch, ihm in vielem zu widersprechen und eigene Ansprüche zu erheben.
Ihr war klar, daß der Vater sie in seinem Lebensspiel als Schachfigur einsetzen wollte, so wie er es mit Catherine getan hatte. Doch Anne hatte sich vorgenommen, es klüger anzufangen als ihre Schwester. Sie wandte all ihre Klugheit, all ihr Wissen daran, um Hugh Marshall zu überreden, daß er zu Catherines Vermählung ein Ritterturnier veranstaltete. Bei diesem Turnier wollte sich Anne selber einen Ehemann wählen und bei ihrem Vater alle ihre Überredungskünste aufbieten, damit er sie den heiraten ließe, den sie für den Richtigen hielt. Nie würde sie sich wie Catherine mit einem Mann verheiraten lassen, der ihrem Vater glich.
Jetzt schaute sie unter halb gesenkten Lidern zum Haus ihres Vaters hinüber. Von nun an würde ein Kampf zwischen seiner bulligen Kraft und ihrem Verstand entbrennen. Der Ausgang dieses Kampfes würde über ihr ganzes weiteres Leben entscheiden. Setzte ihr Vater seinen Willen durch und verheiratete sie mit einem Mann seines Schlages, wäre sie für den Rest ihrer Tage zu einer Hölle verdammt, die schlimmer war als alles, was ihr bisher in England widerfahren war.
Bei dem Turnier aber würde sie sehen, was England ihr an Männern zu bieten hatte. Dann mußte sie einen finden, der ihr gefiel - und gleichzeitig auch ihrem Vater.
Sie wandte sich ihren Ladys zu, die gerade zurückkamen. Dabei dachte sie an das Gespräch mit Tearle. Sie war froh, daß er nicht aktiv am Turnier teilnehmen wollte. Denn Tearle würde ihrem Vater ohne Zweifel gefallen. Er war der zweite Bruder eines Herzogs, und seine Familie war sehr, sehr reich.
Doch Anne wollte Tearle nicht heiraten. Zwar war er jung, gutaussehend, reich und eine passende Partie, aber er war ihr zu glatt, ein ewiger Taugenichts. Nach einem Jahr Ehe mit ihm würden sie sich wahrscheinlich gegenseitig an die Kehle gehen.
»Mylady, haben Sie eine schlechte Nachricht erhalten?«
Anne sah ihre Zofe an. »Nein, ich habe nichts gehört, was ich nicht schon wußte. Kommt, laßt uns Spazierengehen! Oder besser noch, wir wollen ausreiten! Ich brauche Bewegung, um mir den Kopf auszulüften.«
Zared trat zur Seite und sah den Bemühungen der Männer zu, den schweren Wagen aus dem Schlamm zu ziehen. Sie waren seit gestern unterwegs und würden in wenigen Stunden den Schauplatz des Turniers erreichen. Vor Aufregung hatte Zared nachts nicht schlafen können und statt dessen Severn mit hundert Fragen gequält. Normalerweise hätte er ihr barsch befohlen, den Mund zu halten, aber auch er schien keinen Schlaf zu finden. Fast hätte Zared angenommen, er sei genauso aufgeregt wie sie. Doch das konnte ja nicht sein. Severn hatte schon viele Turniere bestritten - oder etwa nicht?
»Hast du die anderen Turniere alle gewonnen?« hatte sie ihn gefragt.
»Welche anderen?«
»Die anderen Turniere, an denen du teilgenommen hast. Hast du alle Preise bekommen?«
Im Mondschein betrachtete Severn das eifrige Gesicht der kleinen Schwester. Er hatte in seinem ganzen Leben noch an keinem Turnier teilgenommen. Seine Jugend hatte er damit verbracht, gegen die Howards zu kämpfen. »Natürlich nicht«, sagte er und sah, wie Zareds Gesicht lang wurde. »Rogan hat bei einigen gesiegt.«
Nun lachte Zared wieder. »Es muß wunderbar sein, mit all den Rittern in ihrer Rüstung. Sie müssen herrlich aussehen.«
»Hör jetzt auf damit!« befahl ihr Severn mit unterdrückter Stimme. »Wie soll ich dich beschützen, wie soll ich verhindern, daß jemand dein Geschlecht erkennt, wenn du mit Kalbsaugen hinter jedem vorbeistolzierenden Arsch herstierst, dessen Rüstung dir imponiert?«
»So dumm bin ich doch nicht«, zischte sie. »Ich würde nie ...«
»Und was ist mir Ralph?« fragte er neckend. »Der arme Junge machte sich schon Sorgen, weil er beim Anblick meines Bruders Gelüste verspürte.«
»Gelüste? Bist du sicher? Was hat er gesagt?« Wutentbrannt hielt sie inne, weil ihr Bruder in Gelächter ausgebrochen war. »Seine Gelüste interessieren mich nicht«, sagte sie dann von oben
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