Liebe läßt alle Blumen blühen
gerettet! Es gibt keinen Grund mehr, Angst zu haben. Erinnern Sie sich: Sie fuhren mit einem Boot über den Etang, da kam plötzlich ein Wind …«
Die Unbekannte schwieg. Sie lag auf dem Rücken, rührte sich nicht und starrte gegen die Balkendecke.
»Stellen Sie doch mal das Radio an, Tinka«, meinte Zipka.
»Jetzt?«
»Vielleicht hilft Musik? Auf irgendeinen Reiz muß sie doch reagieren.«
Aber auch die Musik half nicht. Das Mädchen drehte zwar den Kopf zur Seite, zu dem Radio hin, aber sein Blick blieb ausdruckslos.
»Immerhin etwas!« sagte Zipka leise. »Sie nimmt Musik wahr. Ich frage mich: Wo kommt in dieser Einsamkeit nachts ein so hübsches Mädchen her? Haben Sie die Figur gesehen?«
»Ich habe sie ja ausgezogen.«
»Toll, was?«
»Sie hat leichte O-Beine«, erklärte Kathinka dunkel. »Und ein Muttermal an der rechten Hüfte …«
»Wie süß!«
»Damit entlarven wir sie …«
»Entlarven? Wie das klingt! Wieso denn?«
»Muttermale an der rechten Hüfte dürften nicht alltäglich sein. Damit könnte man ihre Identität feststellen.«
»Tinka, Sie entwickeln ja einen richtigen Kriminalisteninstinkt!«
Zipka goß sich auch einen Kognak ein und trank ihn. Die Unbekannte starrte an die Decke und rührte sich nicht. Eine Porzellanfigur, die leise atmet …
»Wir werden in die großen südfranzösischen Zeitungen ein Inserat setzen: ›Wer kennt Mädchen, Mitte Zwanzig, Typ Barbiepuppe, mit Muttermal an rechter Hüfte.‹ Glauben Sie an einen Erfolg?«
Kathinka schwieg verbissen. Sie trommelte mit den Fingerspitzen gegen ihr Kognakglas. »Wie soll es weitergehen?« fragte sie schließlich.
»Wir müssen ihren Schock lösen.«
»Wir? Ist das unsere Aufgabe? Wir melden die Sache morgen dem Sergeanten Andratte und lassen die Fremde abtransportieren.«
»Wenn sie transportfähig ist.«
»In einem Krankenwagen natürlich!«
Irgendwie schien diese Unterhaltung doch ins Bewußtsein der Unbekannten zu dringen. Sie bewegte den Kopf, drehte ihn, sah Zipka mit einem halbwegs normalen Blick an und öffnete den Mund.
»Ahhh …«, sagte sie gedehnt, mit einem zierlichen Stimmchen.
»Na, wenigstens etwas!« Zipka beugte sich zu ihr und strich ihr das Haar aus der Stirn. Kathinka empfand das als zu zärtlich und knurrte in sich hinein.
»Willkommen im Diesseits, Mademoiselle! Sie befinden sich hier bei Monsieur Zipka in der Moulin St. Jacques …«
»Ahhh …«, antwortete die schöne Unbekannte gedehnt.
»Und neben mir ist Madame Braun«, vollendete Zipka die Vorstellung. »Die können auch ›Brun‹ sagen, das fällt Ihnen leichter und ist dasselbe.«
»Ahhh …«
»Wir sind liebe Menschen und wollen Ihnen helfen.«
»Ahhh …«
Zipka richtete sich auf und nahm wieder einen Schluck Kognak. »Ihr Wortschatz ist nicht umfangreich«, meinte er sarkastisch. »Vielleicht ist sie gar keine Französin?«
»Nach Kisuaheli sieht sie auch nicht aus!« antwortete Kathinka.
Zipka kratzte sich den Haaransatz und nahm die schlanken Finger der Unbekannten zwischen seine Hände. Kathinka bemerkte es mit Mißfallen. »Wer sind Sie?« fragte er.
»Ich weiß nicht«, antwortete das Mädchen mit klarer, aber in einer Tonhöhe bleibenden Stimme.
»Woher kommen Sie?«
»Ich weiß nicht …«
»Wo sind Sie in den Kahn gestiegen?«
»Ich weiß nicht …«
»Wie heißen Sie?«
»Ich weiß nicht …«
Zipka griff wieder zur Kognakflasche. »Wenigstens ein Fortschritt! Jetzt sagt sie außer ›Ahhh‹ auch noch ›Ich weiß nicht‹.« Er feuchtete den Zeigefinger mit Kognak an und strich ihr damit über die trockenen Lippen.
Das Mädchen öffnete sofort den Mund und begann leicht – wie ein junges Kätzchen – zu saugen. Ihr Blick wurde ein wenig lächelnd.
»Wo waren Sie, als die Sonne schien?« fragte Zipka schnell. Und wieder antwortete die gedehnte Stimme in einer Tonhöhe: »Ich weiß nicht …«
»Da haben wir ein Problem aufgefischt.« Zipka erhob sich, holte aus seinem Jackett eine Zigarettenschachtel und steckte sich eine Zigarette an. Dann zündete er eine zweite an und gab die erste an Kathinka weiter.
»Danke«, sagte sie und warf sie nicht in hohem Bogen weg, wie er erwartet hatte. »Welches Problem?«
»Ein äußerst seltenes Phänomen: Unsere schöne Unbekannte hat ihr Gedächtnis verloren. Was machen wir mit ihr? Sie weiß nicht, wer sie ist, woher sie kommt, wohin sie will, sie scheint überhaupt nichts zu begreifen und besitzt nur noch einen minimalen Wortschatz.«
Kathinka rauchte
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