Liebe um Mitternacht
gnadenlosen Welt der Gesellschaft. Er hatte sich strenge Regeln auferlegt und auch danach gelebt. Sie beherrschten seine intimen Beziehungen genauso wie alles andere in seinem Leben.
Seine Regeln hatten ihm gute Dienste geleistet. Daher hatte er auch nicht die Absicht, sie jetzt außer Acht zu lassen.
Dennoch konnte er nicht aufhören, an den ersten Blick zu denken, den er auf Caroline Fordyce geworfen hatte, und er wunderte sich darüber, wie sehr ihn dieser erste Eindruck für sie eingenommen hatte. Ihr Bild vor diesem zierlichen kleinen Schreibtisch, erhellt vom Strahl der Morgensonne, schien sich in sein Gedächtnis eingebrannt zu haben.
Sie hatte ein schlichtes, schmuckloses Hauskleid in einem warmen Kupferton getragen. Das Kleid war dafür gemacht, von einer Dame im Haus getragen zu werden, daher fehlten die gerüschten Unterröcke und auch die kunstvolle Schleife am Rücken, die das eher förmlichere Kleid einer Frau zierte. Die Formen des eng anliegenden Mieders hatten ihre weibliche Figur, die hohen Brüste und ihre schlanke Taille noch unterstrichen.
Carolines glänzendes goldbraunes Haar war hochgesteckt gewesen, und sie hatte es im Nacken zu einem Knoten zusammengebunden, der die anmutige Linie ihres Halses noch unterstrich. Ihre Haltung strahlte einen ruhigen Stolz aus. Er glaubte, dass sie ungefähr Mitte zwanzig sein musste.
Ihre Stimme war einnehmend und sanft und hatte ihn sofort berührt. Bei jeder anderen Frau hätte diese Stimme absichtlich herausfordernd geklungen, doch er fühlte, dass es bei ihr keine Absicht war. Er war sehr sicher, dass die Art, wie Caroline sprach, ein Teil von ihr war. Sie deutete auf eine tiefe Leidenschaft hin.
Was war nur mit dem verstorbenen Mr. Fordyce geschehen? fragte er sich. War er an Altersschwäche gestorben? Hatte ein Fieber ihn dahingerafft? Oder vielleicht ein Unfall? Wie auch immer, er war erleichtert, dass die Witwe sich nicht verpflichtet fühlte, sich in dem unglücklichen Stil der Trauer zu kleiden, den die Königin eingeführt hatte, nachdem sie ihren geliebten Albert verloren hatte. Manchmal hatte er den Eindruck, dass die Hälfte der Frauen in England in Krepp und Trauerschleier gekleidet zu sein schienen. Er hatte sich immer wieder darüber gewundert, dass es dem schwachen Geschlecht gelungen war, die triste Kleidung, die doch tiefe Trauer ausdrücken sollte, den höchsten Höhen der Mode zu unterwerfen.
Doch Caroline hatte kein einziges Schmuckstück getragen, das schwarz oder dunkel emailliert gewesen war. Vielleicht trauerte die geheimnisvolle Mrs. Fordyce ja gar nicht so sehr über den Verlust von Mr. Fordyce. Vielleicht war sie ja auch auf der Suche nach einer neuen Bindung intimer Art.
Das ist jetzt nicht der richtige Zeitpunkt, sich in solch tiefes Wasser ziehen zu lassen,
überlegte er. Hier stand viel zu viel auf dem Spiel. Er durfte das Risiko nicht eingehen, sich von dieser Lady ablenken zu lassen, ganz gleich wie attraktiv und verlockend sie auch war.
Er überquerte die Straße und blieb kurz stehen, um einen überfüllten Bus vorbeizulassen, die Pferde mühten sich ab, das schwere Gefährt zu ziehen. Der Kutscher einer schnell dahineilenden zweirädrigen Droschke entdeckte ihn und bot ihm seine Dienste an. Adam winkte ab. Er würde schneller zu Fuß vorankommen.
Als er die gegenüberliegende Straßenseite erreicht hatte, ging er über den schmalen Bürgersteig und durchquerte einen kleinen, heruntergekommenen Park. Aus seinem alten Leben auf der Straße kannte er all die verborgenen Straßen und Wege der Stadt, die auf keiner Karte zu finden waren und von denen auch nur wenige Kutscher wussten.
Als er nach seinem schnellen Gang die schmale Gasse wieder verließ, entdeckte er einen Zeitungsjungen, der die neueste Ausgabe des
Flying Intelligencer
verkaufte.
Aus einem unerfindlichen Grund blieb er vor dem verwahrlost aussehenden Verkäufer stehen.
»Ich hätte gern eine Zeitung.« Er holte eine Münze aus der Tasche.
»Aye, Sir.« Der Junge grinste und griff in seine Tasche, um eine Zeitung herauszuholen. »Sie haben Glück, ich habe noch eine übrig. Ich nehme an, Sie können es kaum erwarten, die nächste Episode von Mrs. Fordyces Geschichte zu lesen, wie all meine anderen Kunden auch.«
»Ich gebe zu, ich bin ein wenig neugierig darauf.«
»Sie werden erfreut sein über diese Fortsetzung des Romans
Der geheimnisvolle Herr, The Mysterious Gentleman,
Sir«, versicherte ihm der Junge. »Sie beginnt mit einem erstaunlichen
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