Liebe Unbekannte (German Edition)
Gott. Kannst du dir das vorstellen?“
„Ja, mein Vater war auch da“, sagte ich beinah, doch dann siegte die Vorsicht in mir. Das ging Gábor nichts an. Außerdem war es gar nicht sicher, dass mein Vater dabei gewesen war. Aber eigentlich hatte er dabei sein müssen, wenn diese Messe tatsächlich stattgefunden hatte, es war unmöglich, dass er nicht dabei gewesen war, und die schöne Polin musste er auch bemerkt haben, denn er hatte ein Auge für Frauen, wobei er es sogar fertig gebracht hätte, sich bei einer während der Revolution in einem Krankenhauslabor abgehaltenen Messe tatsächlich nur mit Gott zu befassen, ohne sich umzuschauen. In diesem Moment, hier im Zug, interessierte ich mich jedoch noch nicht für Vaters Vergangenheit.
„Gott?“, fragte ich. „Den kann ich mir nur schwer vorstellen.“
„Nicht Gott. Ich spreche von dem Leibwächter. Jetzt kommt nämlich der Leibwächter. Der die Polin ansprach. Sie wurde nämlich von einem Leibwächter angesprochen. Einem ehemaligen Leibwächter. Er war der Leibwächter des Staatsoberhauptes gewesen. Wer sonst hätte er sein sollen. Die beiden wurden die Eltern meines ehemaligen Freundes.“
Er verstummte, sah mich an.
„Und deswegen habt ihr euch zerstritten?“
„Nein“, sagte er traurig. Er bemerkte die Stichelei überhaupt nicht, zugegeben, sie war eher harmlos gewesen. „Wieso hätten wir uns deswegen streiten sollen? Das ist eine wunderschöne Geschichte. Flachglas.“
Mein Freund. Mein Freund. Mein Freund. Gábor zuzuhören bereitete mir nicht nur deshalb Freude, weil er seinen Freund offensichtlich und eindeutig gern hatte, sondern auch, weil er das altmodische Wort
Freund
verwendete, wenn er über ihn sprach. Er sagte nicht: mein Kumpel.
„Bist du eigentlich in deinen Freund verliebt oder in die Freundin deines Freundes?“, nach allem, was er bisher gesagt hatte, war das eigentlich keine Frage mehr, ich hätte sie ihm dennoch fast gestellt. Doch ich bat ihn lieber, mir etwas Apfelwein zu geben. Nun befürchtete ich nicht mehr, von ihm erwürgt zu werden, sondern dass wir wieder auf Emőke Széles zu sprechen kamen, die er glücklicherweise vergessen hatte. Ich denke, ich tat das Richtige, denn im weiteren Verlauf des Abends sprach Gábor nicht mehr über seine Liebe zu Emőke Széles. Ich glaube nicht, dass er nicht wirklich in sie verliebt war, nur war diese Liebe eher ritterlicher Natur und die Entfernung und das Schmachten gehörten zu ihren grundlegenden Elementen dazu. Emőke Széles tat ihm vor allem leid. Sie tat ihm aufrichtig leid.
Er gab mir den Apfelwein. In der Flasche waren noch zwei Schluck. Die dreiviertel Flasche hatte er getrunken. Nun öffnete er die zweite Flasche. Auch von dieser gab er mir etwas ab.
„Also, wenn es dich so sehr interessiert, worüber wir uns gestritten haben … Wir hatten einen gemeinsamen Meister. Das ist ein unglaublicher Kerl. Der Leiter des IHE.“
„Patai“, sagte ich.
„Genau. Kennst du ihn?“
Er trank. Er hatte sich zu schnell betrunken. War es möglich, dass er sich tatsächlich nicht daran erinnerte, mir von Patai bereits erzählt zu haben?
Zuhause hatte ich eine Ausbildung erhalten, wie es zu umgehen sei, als Spitzel angeheuert zu werden, wenn die Zeit dafür gekommen sein würde. Wie ich mich aus der Klemme zu winden hatte, wenn sich jemand ohne jeden ersichtlichen Grund an mich hinge, und ich ihn nicht losbekäme, er mir Fragen stellte und unsere Unterhaltung in bestimmte Bahnen lenkte. Wenn er mir eine unglaubliche (oder gerade sehr glaubhafte) Möglichkeit anböte oder mir womöglich sogar drohte. Zum Beispiel damit, meine Zukunft oder die meiner Familie zu ruinieren. Im Gegensatz zum zehnminütigen Selbstverteidigungskurs fand Vater hierfür stets die notwendige Zeit: Er beschäftigte sich viel und geduldig mit uns, führte als Beispiele für richtige Antworten einige aus der Familiengeschichte an, die wir, mit entsprechendem Tonfall, einüben mussten. Unter diesen gab es heldenhafte und weniger heldenhafte Antworten, sie waren jedoch allesamt verneinend. Erika war stets sehr gut in diesen Lektionen, Gerda ebenfalls, wobei sie hinter Vaters Rücken darüber lachte. Wir bekamen so oft zu hören, dass wir uns als Geschwister auch ohne Worte verstehen müssten, dass Gerda und Erika einige Geheimzeichen vereinbarten. Später wurde auch ich eingeweiht. Wir übten sie sogar manchmal zu dritt.
Ich erwies mich als ein wesentlich schlechterer Schüler als sie. Obgleich ich kein
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