Liebe Unbekannte (German Edition)
später vor Scham erlosch. Was ich in der kurzen Zeit gesehen hatte, reichte jedoch. Ein großer Tisch, drei geöffnete Eisenschränke, unzählige Matratzen, Schlafsäcke, Decken. Aus diesen und unter diesen schauten schlafende Köpfe heraus, vor allem Männerköpfe. Schnarchen. Einer der Schränke lag umgekippt, in ihm war ein Berg leerer Flaschen. Im anderen Schrank hing, neben einer Seite Speck, ein Luftgewehr, und im unteren Teil war ein Meer von hüllenlosen Kassetten, das sich bis zum Boden hin erstreckte. Auf diesem Schrank stand schließlich der dritte Schrank und darin hing Tabakis langer Dandy-Mantel. Dieser hatte merklich einen gewissen Kultstatus. Zumindest war er tabu.
Das Grauen schlechthin befand sich auf dem Tisch. Die Requisiten und Erinnerungsstücke eines fortwährenden Festes. An die zwanzig angeschlagene, dreckige Tassen und Becher. Mehrere Kilo benutzten Butterbrotpapiers, zerknittert und unzerknittert, Pfunde von Extrawurst- und Salamirändern und halbe Pfunde von leeren Milchtüten. Ein halbes, auf die Schnittseite gelegtes Brot, die Kanten durch einen gigantischen Kiefer abgebissen. Das Bein eines Hasen. Ein Schneidebrett, bedeckt und umgeben von Käserändern unterschiedlichen Alters. Ein mit Schweinefett und Marmelade vollgeschmiertes Küchenmesser, in der Marmelade zwei Zigarettenstummel. Überhaupt: Hunderte von Kippen in Konservendosen, Marmeladengläsern, Kefirbechern, auf dem Tisch, dem Boden, überall. Auf dem Tischrand ein tragbarer Kassettenrekorder, mit Kefir übergossen. Und all dies wegen einer Partie Schach von der Mitte des Tisches zur Seite geschoben. Dort stand das Schachbrett. Neben Weiß lag das besagte Hasenbein als Glücksbringer. Weiß war aufgestellt. Es sollte eine Spanische Partie werden, der weiße Bauer war schon vorgerückt, man war jedoch nicht weitergekommen, da Schwarz, statt eines Zugs – vielleicht beim Anblick des Hasenbeins – sich über seine eigenen Figuren übergeben hatte. Die Einrichtung des Raumes wurde durch die Geräusche eines Paars ergänzt, das sich hinter einem der Eisenschränke leise liebte.
Sogar Elemér schien ratlos zu sein.
„Pst.“
Er trat behutsam über zwei Schlafende und eine Matratze und linste hinter den Schrank, um zu überprüfen, ob nicht Schwesterchen eine der beiden Liebenden war. Er hätte es sich vorstellen können. Diese Idee war ihm jetzt gekommen und hatte ihm einen ziemlichen Schrecken eingejagt. Wenn es ihm eher eingefallen wäre, hätte er mich gar nicht hierher gebracht. Er band mir seinen Verdacht jedoch nicht auf die Nase, da er seine Schwester vor mir in gutem Licht darstellen wollte. Er bedeutete mir zu warten, ich sollte mich ja nicht von der Tür fortbewegen. Ich wusste natürlich nicht, was er dachte, ich glaubte, er wolle es sich einfach nur anschauen. Die Liebenden kümmerten sich nicht um ihn, bemerkten ihn vielleicht gar nicht. Ich schämte mich jedoch so sehr für ihn, dass die Glühbirne erlosch.
„Oh, oh“, flüsterte Elemér im Dunkeln. „Ich stehe auf einem Bein.“
Er traute sich nicht, im Dunkeln zurückzukommen, aus Angst, auf jemanden zu treten.
„Lass mich nicht hier, Schätzchen.“
Im Dunkeln hatte ich plötzlich das Gefühl, ich müsse dableiben. Zum Glück ging die Glühbirne wieder an: Aufgrund der hohen Luftfeuchtigkeit ging sie mal an, mal aus. Ich erblickte wieder das unsägliche Durcheinander, und der Wunsch zu bleiben verflog sogleich. Elemér befreite sich aus seiner Lage und huschte mit zwei Pantherschritten zu mir zurück.
„Hu, habe ich einen Schreck bekommen“, flüsterte er. „Lass uns kurz Luft holen.“
Wir zogen uns vorübergehend auf den Gang zurück.
„Du“, sagte er, „ich kann diese Sexuellen einfach nicht verstehen. Ich weiß nicht, wie es dir damit geht, aber für mich ist die ganze Sache ein bisschen zu hoch.“
Elemér stieß auf Schritt und Tritt mit der Sexualität zusammen und blieb ratlos vor ihr stehen. Dabei spürte er eindeutig, dass er mit dem Phänomen etwas anfangen müsste. Er kam jedoch nie weiter, als nachsichtig und verständnislos den Kopf zu schütteln. Außerhalb der Bibliothek war er völlig verloren, außer was Kinos betraf. Er wusste von jedem Kino, wo es war, und kannte jeden Film auswendig.
„Wir können gehen, Schätzchen.“
„Und die kräftigen Burschen?“, fragte ich, denn nun war bereits ich es, der zurückgehen wollte. Die paar Sekunden, in denen ich die Schlafenden hatte betrachten können, reichten mir, um sie
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