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Liebe Unbekannte (German Edition)

Liebe Unbekannte (German Edition)

Titel: Liebe Unbekannte (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: István Kemény
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hätte überwinden sollen.
    Übrigens unterschätzten sowohl Gerda als auch ich diese Leute. Die meisten von ihnen schliefen die ein bis zwei Jahre aus, die sie hier verbrachten, und wurden dann zu nützlichen Mitgliedern der Gesellschaft, zu Ökonomen, Juristen, ja, einer von ihnen wurde sogar Parlamentsabgeordneter und durfte, als Belohnung für seine Karriere, als Diplomat nach Brüssel gehen, wo er an der langsamen Auflösung Europas unmittelbar teilnehmen konnte.
    „Hallo!“
    „Was’n los?“, fragte eine mürrische Stimme.
    Die Glühbirne ging wieder an. Und erlosch. In der Sekunde, in der es hell war, hatte ich Misi Báránys Kopf erblickt, der aus einem zerschlissenen Schlafsack herausguckte. Er war es, der im Lager zu Beginn des Studiums bei Patais Vorlesung abfällige Kommentare über ihn gemacht hatte. Jetzt schlief er nur noch.
    „Es werden drei Freiwillige benötigt“, sagte Elemér. „Drei schön kchäftige Burfen. Einen haben wir schon. Es müsste eine Tanne in die Bródy getragen werden.“
    „Eine was?“
    „Eine Tanne.“
    Offenbar waren bereits einige wach, denn nach einem kurzen Augenblick der Überraschung, in dem man das Gehörte zu deuten versuchte, brachen mehrere in Lachen aus. Und verstummten wieder.
    „Wer ist das?“
    „Elemér. Und irgendein Heini. Sag mal, Elemér, ist etwa schon Weihnachten?“
    Bei der Erwähnung von Elemér mussten die meisten in der Bibliothek lächeln. Er war jedoch schon daran gewöhnt. Auch daran, dass man ihn für schwul hielt. Dabei verstand er auch die Schwulen nicht.
    „Wir bräuchten einen richtig großen Baum, denn der Saal in der Bródy ist mindestens fünf Meter hoch.“
    Erneutes Lachen. Vermischt mit Schnarchen.
    „Aber es ist kein Muss.“
    „Mus?“
    „Hat er Mus gesagt?“
    „Ja, Mus.“
    Es wurde still. Elemér nutzte die Situation für einen Rückzug.
    „Wenn nicht, dann eben nicht. Komm, Schätzchen.“
    „Entschuldigung“, sagte ich ins Dunkel hinein, womit ich mich selbst ein wenig überraschte. Wir ertasteten den Weg zum Gang.
    „Entschuldigung, Entschuldigung“, sagte Elemér vorwurfsvoll. „Weißt du, wo es üblich ist, sich zu entschuldigen?“
    Vielleicht dachte er an die Kirche. Zuerst hatte ich übrigens auch gedacht, mich entschuldigt zu haben, um mich bei ihnen einzuschmeicheln. Oder aus Dankbarkeit, da ich erwartete hatte, dem
Komm, Schätzchen
würde grölendes Gelächter folgen, was zum Glück ausblieb. Dabei galt meine Entschuldigung nicht den Leuten im Raum, sondern meinem eigenen Schicksal. Denn ich hätte hierbleiben müssen, was ich jedoch nicht tat: Entschuldigung, liebes Schicksal, sei nachsichtig mit mir. Wir stiegen die Treppe hinauf und gelangten durch die Eisentür ins Freie. Wir atmeten auf.

„Na, da sind wir noch einmal heil davongekommen, Schätzchen. Die hatten ja echt gute Laune. Wahrscheinlich gab es in der Nacht ein riesiges Fest, deshalb sind sie so mürrisch. Aber sag, was sollen wir jetzt machen?“
    Ich war nicht auf die Frage vorbereitet, es erschien mir jedoch nicht so schwer, sie zu beantworten.
    „Na, wir sollten vielleicht … den Baum in die Bródy bringen.“
    „Du und ich? Das wäre gut, aber ich habe eine Phobie, was die Stadt betrifft.“
    Elemér war wegen seiner Phobie außerhalb der Bibliothek völlig verloren. Innerhalb des Gebäudes hatte er nirgends Angst, aber draußen traute er sich nicht einmal, allein bis zur Bushaltestelle zu gehen. Meist gingen er und Tante Gizella gemeinsam zum Bus, und es sah so aus, als führte er sie und nicht andersherum. Das hatte Tante Gizella so arrangiert.
    „Und wo ist die Tanne?“, fragte ich mit einem leichten Stöhnen.
    „Du kannst mich ruhig duzen, Schätzchen. Ich werde von allen geduzt.“
    „Habe ich dich gesiezt?“
    „Nein. Aber du traust dich nicht, mich zu duzen und so etwas spürt man. Wo die Tanne ist? Also wir haben sie damals immer in der Sóház Straße gekauft … denn wir mochten Weihnachten auch, glaubten nur nicht an Gott, bis Vati in Rente ging. Er war Haupthütteningenieur, also Parteimitglied, durfte vor der Rente nicht wirklich an Gott glauben, aber jetzt ist er schon Rentner und dann kam auch noch diese Nostalgie in Mode, also ich denke, dass er inzwischen an ihn glaubt.“
    Ihm fiel zu spät ein, dass er das Wort
Gott
hätte leiser aussprechen müssen, deshalb senkte er bei dem Wort
Parteimitglied
vorsichtig die Stimme.
    „Und weißt du, wo er ist?“, fragte ich. Ich meinte die Tanne, Elemér dachte jedoch,

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