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Liebe Unbekannte (German Edition)

Liebe Unbekannte (German Edition)

Titel: Liebe Unbekannte (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: István Kemény
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noch einmal sehen zu wollen. Ich wusste bereits, dass mir dieses Bild von irgendwoher bekannt vorkam.
    „Sssss. Stimmt ja. Du hast recht.“
    Geräuschlos betrat er die Türschwelle. Da erlosch die Glühbirne jedoch wieder. Die Luft war feucht. Die Keller des Palastes stehen wahrscheinlich in Verbindung mit den unterirdischen Gewässern. Als würde der Burgberg tatsächlich aus der Donau trinken. Es sah aber so aus, als würde nur der Atem der Schlafenden die Luft mit Feuchtigkeit füllen.
    „Ihr Schätzchen“, flüsterte er ins Dunkel. „Ihr Schätzchen.“
    In Wirklichkeit wollte er niemanden wecken. Die Suche nach den kräftigen Burschen war eher ein Vorwand.
    Ich wollte jedoch noch gerne einen Blick auf die Schlafenden werfen. Sobald wir herausgekommen waren, und ich sie nicht mehr sah, hatte ich wieder das Gefühl, hier bleiben zu müssen. Denn ich erkannte diesen Ort.
    Er war es nämlich, den ich gesucht hatte: Das war die Budapester Künstlerwelt. Das war mein Ziel gewesen. Der geheimnisvolle Ort, nach dem ich mich schon immer gesehnt hatte. Oder zumindest meine erste größere Station auf dem Weg zur
großen Welt
. Jetzt erkannte ich den Ort:
Das
war er.
    Ich glaubte, alle der Schlafenden seien Künstler.
    Im Grunde verwechselte ich den Ort in meiner Unerfahrenheit mit der Hölle. Ich traute diesem Pack zu viel zu. Hier und in diesem Augenblick glaubte ich, sie seien alle da, um große Kunstwerke zu erschaffen. Und sie seien deshalb so animalisch geworden, weil das eine Vorbedingung der Entstehung von großer Kunst sei.
    Wobei ich mit meiner Annahme gar nicht so sehr danebenlag. Die Schlafenden, die ich in dem Saal gesehen hatte, bildeten eine Unterweltsabzweigung einer größeren Gesellschaft, die in Budapest, zumindest ab der Reformationszeit, ohne Unterbrechung existiert hatte. Diese bestand aus den Künstlern der jeweiligen Zeit, Studenten, enthusiastischen Buddhisten, lauter Fast-Niemanden. Natürlich waren sie ausnahmslos alle
Sexuelle
. Diese Gesellschaft gab es bereits in der Zeit, als man sie noch die
Bohème
nannte. Es fand ein unmerklicher Austausch der Mitglieder statt: Sie heirateten, starben, wanderten aus, wurden zu alt, wurden alt genug. Es gab jedoch zu jeder Zeit Mitglieder, die die Vergangenheit der Gesellschaft mit deren Zukunft verbanden, also handelte es sich doch um dieselbe Gesellschaft. Es gab stets einige frische, unverdorbene Mitglieder, die neue Leute anzogen und diese dann wieder neue. Die Gesellschaft spaltete sich in verschiedene Zweige, manchmal vereinten sich manche Zweige, um sich später wieder zu trennen. Manche Zweige führten aus der Gesellschaft hinaus, es gab aber auch Zweige, die von außen kamen und zu ihr führten. Das, was Elemér und ich hier sahen, war ein starker Nebenzweig der Budapester Künstlerwelt. Auf jeden Fall gab es eine klare Kontinuität zwischen dem Kaffeehaus
Pilvax
und den Kellerräumen des Palasts.
    Und ich spürte, dass ich an einem Punkt angekommen war, an dem ich mich entscheiden musste.
    Denn nur hier und an Orten wie diesem gab es wirkliche Künstler, sonst nirgends, dachte ich. Wer nicht hier anfing und durch alle Untiefen ging, konnte kein wirklicher Künstler werden, und das, was man hier sah, waren wahrlich Untiefen. Diverse Gestalten hatten Gerda von dieser Gesellschaft erzählt und hätten sie auch gleich mitgenommen, sie ging jedoch nicht mit. In der Filmfabrik eröffneten sich ihr mehrere Wege in die Künstlerwelt, nach oben oder auch nach unten, und am Ende hätte sie sogar an diesem temporären Zufluchtsort landen können. Gerda erschrak jedoch vor dieser Möglichkeit, ihr wurde klar, dass sie nicht animalisch werden wollte, und dass hier nicht jeder Künstler war und in den Köpfen teilweise gähnende Leere herrschte. Wenn sie wenigstens ein Mann gewesen wäre, aber als Frau hätte sie in dieser Welt höchstens ein Gebrauchsgegenstand sein können. Mit anderen Worten, sie glaubte nicht an sich, schrak zurück und versteckte sich vor der Möglichkeit hinter psychosomatischen Krankheiten.
    Ich hatte jedoch genug von ihr über ihn gehört, um diesen Ort zu erkennen. Ja, ich hätte ihn sogar von mir selbst aus erkannt. Das war
der Ort
.
    Aber ich blieb auch nicht hier. Dabei wusste ich selbst, dass mich eines Tages jemand fragen würde, was ich mit meinem Leben angefangen habe, weshalb ich nicht hier oder an einem ähnlichen Ort geblieben sei. Aber ich ekelte mich nun einmal. Ich weiß bis heute nicht, ob ich den Ekel nicht lieber

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