Liebe Unbekannte (German Edition)
ich meine Gott.
„Na, wo schon, Schätzchen. Schwesterchen sagt, in unseren Herzen.“
„Wo die Tanne ist, wollte ich wissen.“
„In der Sóház, nehme ich an.“
„Doch nicht etwa in der Sóház Straße?“
„Na, neben der Markthalle.“
Diese Information wirkte wie eine Zauberformel auf mich.
„In der Sóház Straße? Dann muss der Baum ja noch gekauft werden!“
„Ja, so ist es. Umsonst bekommen wir ihn nicht.“
„Das ist ja etwas ganz anderes! Wieso sind wir nicht gleich dorthin gegangen?“
Elemér sah mich verwundert an und fragte sich, was mit mir geschehen war. Ich war plötzlich hellauf begeistert. Mich hatte das Jagdfieber erfasst. Die Bibliothekstanne hatte mich bis zu dem Zeitpunkt nicht interessiert, da ich gedacht hatte, sie sei bereits gekauft worden. Sicherlich hatte jemand den erstbesten, mickrigen Weihnachtsbaum gekauft. Einen, der zwar fünf Meter hoch, jedoch krumm war und kaum Zweige hatte. Ich wusste genau, was für Tannen zu kaufen manche fähig waren. Aber wenn ich sie in der Sóház Straße aussuchen durfte, dann sah die Sache ja ganz anders aus! In der Sóház Straße, zwischen der großen Markthalle und der Wirtschaftswissenschaftlichen Universität, befand sich der größte Weihnachtsbaummarkt von ganz Budapest.
„Das ist mein Lieblingsort“, fügte ich hinzu. „Ich werde die Tanne aussuchen.“
„Meinetwegen, Schätzchen, aber lass uns vorher trotzdem bei Gizella vorbeischauen, gut? Fragen wir sie, ob es nicht zufällig Neuigkeiten gibt.“
Unter Neuigkeiten verstand er, dass Schwesterchen vielleicht wieder aufgetaucht war.
„Das einzige Problem mit Gizella ist, dass sie sehr argwöhnisch ist. Sie denkt, du willst etwas von Schwesterchen, oder, ich weiß gar nicht genau, was sie denkt.“
Ich wusste jedoch schon ungefähr, was Tante Gizella dachte.
Die Bibliothek, zumindest der Teil von ihr, der bereit war, sich mit der Kleinarbeit von Liebesbeziehungen (Vermittlung, seelische Unterstützung, Erteilen konspirativer Ratschläge) zu beschäftigen, spaltete sich, was Schwesterchen und mich betraf, in zwei Parteien. Die eine Seite enthielt sich jeder Stellungnahme. Diese Seite wurde von Tante Gizella repräsentiert, die niemandem etwas Böses wollte. Gutes wollte sie auch nicht, Gott bewahre vor Wohlwollen, damit ist der Weg zur Hölle gepflastert, es reicht schon, nichts Böses zu wollen. Elemér hatte wiederholt seine Seele bei ihr ausgeschüttet, er glaube, Schwesterchen habe sich völlig in den
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aus dem Lager verguckt, und was er nun tun solle. Tante Gizella, die Elemér nichts Böses wollte, riet ihm, nichts zu tun. Er solle die Sache uns beiden überlassen. Und was auch immer Tante Gizella über Schwesterchen denken mochte, Böses wollte sie auch ihr nicht. Mich kannte sie nur vom Sehen und Hören, aber auch mir wollte sie nichts Böses. Sie hielt mich für einen patenten, wenn auch scheuen jungen Mann. Unter Berücksichtigung aller ihr zur Verfügung stehenden Informationen kam sie zu dem Schluss, dass es für alle Betroffenen am besten wäre, wenn ich in keinen näheren Kontakt mit Schwesterchen käme, sonst könnte dieser Kontakt am Ende noch zu einem handfesten Ergebnis (Kind) führen, was zu vermeiden sei, da die Familie Viola Dévai belastet sei. Schwer belastet.
Sie wies sogar Frau Mirák zurecht, die die aktive Seite repräsentierte, und der Ansicht war, aus Schwesterchen und mir müsse man ein Paar machen: Wie sei es ihr überhaupt in den Sinn gekommen, Elemér auf mich anzusetzen. Diese Sache gehe sie gar nichts an. Frau Mirák blieb ihr die Antwort nicht schuldig: Sie habe damit nichts zu tun, Elemér habe sich selbst angesetzt. Außerdem solle sich Tante Gizella mal Schwesterchens Handgelenk anschauen, das völlig zerritzt sei. Deshalb bräuchte sie einen ordentlichen Jungen, noch bevor sie sich umbringe. Tante Gizella war Schwesterchens Handgelenk auch aufgefallen, über so etwas hatte sie jedoch eine feste, beinah gefühlskalte Meinung: Wenn jemand an seinem Handgelenk herumritze, solle man ihm das Messer aus der Hand nehmen, das sei ja selbstverständlich. Man dürfe jedoch jemanden, der zum Ritzen neige, nicht Tag und Nacht bewachen, denn wenn sich jemand tatsächlich die Pulsadern aufschneiden wolle, dann werde er es auch tun, solange er nur herumritze, handle es sich lediglich um Erpressung. Mit anderen Worten, Évi erpresse mit ihren Selbstmordversuchen ihre Familie, die Bibliothek, ihr Umfeld und vor allem ihren armen Bruder.
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