Liebe Unbekannte (German Edition)
Deshalb machte sie sich auch Sorgen, ich könnte mit ihr in engeren Kontakt kommen, und versuchte, mich davor zu bewahren, dabei hatte ich sie nie um einen Rat gebeten.
Natürlich tat Schwesterchen auch ihr leid, wie jedem in der Bibliothek. Ihr Handgelenk war tatsächlich vollkommen zerritzt, jedoch nicht wegen mir. Die Narben hatte sie schon, bevor wir uns kennengelernt hatten. Sie zeigte sie mir sogar. Nicht, um mit ihnen anzugeben. Sie sprach nur über sie, weil ich sie gefragt hatte.
„Dabei habe ich längs geschnitten“, erklärte sie. „Denn damals wollte ich wirklich sterben. Aber jetzt will ich es nicht mehr.“
Wir trafen uns im September heimlich in einem leeren Forschungszimmer. Davon wussten weder Elemér noch Frau Mirák, ja, nicht einmal Tante Gizella. Davon wusste außer uns niemand, denn bei Schwesterchen waren Geheimnisse gut aufgehoben. Sie hatte den Schlüssel des Zimmers bereits vor längerer Zeit geklaut, ihn nachmachen lassen und den Originalschlüssel an seinen Platz zurückgeschmuggelt. Das war ihr Hauptversteck im Gebäude. Ich erhielt die Kopie des kopierten Schlüssels von ihr. Hier, auf dem Sofa, schlief sie mit mir, auf eine schöne, sorgsame Art.
Danach fragte sie mich, was ich denn werden wolle, wenn ich groß sei.
„Historiker“, sagte ich.
„Das habe ich mir schon fast gedacht!“, sagte sie. „Ich kenne dich schon so gut. Nicht Archäologe?“
„Nein. Richtiger Historiker. Ich will mich mit der Spätzeit des Römischen Reiches beschäftigen.“
Mich interessierte der Niedergang, der Zerfall des Reiches, das sagte ich ihr jedoch nicht. Sie war mit ihren zerschnittenen Handgelenken auch so schon eine ausreichend dekadente Erscheinung, daher wollte ich das Thema
Niedergang
nicht forcieren, ich wollte es nicht, weil ich stark und gesund war und im Grunde wusste, dass ich mich ruhig mit dem Niedergang beschäftigen konnte, ich würde damit schon fertig werden. Es war jedoch nicht jeder so, sie zum Beispiel war es nicht, das ahnte ich.
„Warst du schon mal in Rom?“
„Machst du Scherze?“, fragte ich lachend. „Sehe ich aus wie jemand, der schon mal im Ausland war?“
„Ich war schon dort. Als Kind. Mit meinen Eltern.“
„In Rom?“
„Dort auch. Und in Rimini. Denn ein bisschen sind auch wir Italiener. Einer unserer Vorfahren kam von Rimini nach Nyíregyháza. Weißt du, wo Rimini liegt?“
„Klar. An der Küste, zwischen Ravenna und Ancona.“
„So genau weißt du das?“
„Ja, von Rimini weiß ich es schon“, sagte ich bescheiden. Dabei hätte ich damals noch alle europäischen Städte, die mehr als hunderttausend Einwohner zählten, auf der stummen Karte einzeichnen können. Ich hatte meine Jugend mit derlei Beschäftigungen verbracht.
„Gerade Rimini? Das ist ja toll!“
„Na ja, die größeren Städte Italiens kenne ich“, sagte ich vereinfachend, denn ich wollte ihr nicht von meiner Jugend erzählen, von da aus wäre es nämlich nur ein Schritt gewesen, bis ich ihr hätte vorlügen müssen, ich sei in sie verliebt, und wenn ich jemals jemandem ein Liebesgeständnis machen würde, dann wäre das Emma Olbach. Éva Viola Dévai durfte ich nicht von meiner Jugend erzählen. Gegenüber jemandem, dessen Handgelenk zerritzt ist, darf man nicht mehrdeutig formulieren.
„Das hätte ich gar nicht von dir gedacht!“, sagte sie erfreut. „Dass du Italien auch so sehr magst. Hast du nicht Lust mitzukommen? Ich fahre nämlich im Oktober hin.“
„Willst du da heiraten?“, stichelte ich.
„Wer hat das gesagt? Mein Bruder?“
„Alle. Ich habe es auch gehört.“
„Ich will nicht heiraten. Das ist schon mal sicher. Ich weiß nur, dass ich nach Italien gehe. Das wissen alle. Das ist kein Geheimnis. Ich habe da einen Brieffreund. Er heißt Giuliano Mazocco. Wie findest du den Namen?“
„Nicht schlecht.“
„Ich will ihn aber nicht heiraten. Wir sind nur Freunde. Im Ernst. Und ich glaube, er hätte auch nichts dagegen, wenn du mitkommen würdest.“
„Da bin ich mir nicht so sicher.“
„Weil du ihn nicht kennst. Es wäre so schön, wenn du mitkommen könntest. Na los.“
„Ich habe gar keinen Pass.“
„Den kann man ziemlich schnell machen lassen. Oder leih dir einen. Soll ich mich darum kümmern? Soll ich dir einen besorgen?“
„Ich habe auch kein Geld.“
Sie merkte, dass ich nicht zu überreden war. Und ihr wurde auch klar, dass es nicht so einfach wäre. Sie sparte bereits seit zwei Jahren auf die Reise, sollte bald ihr Visum
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