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Liebe Unbekannte (German Edition)

Liebe Unbekannte (German Edition)

Titel: Liebe Unbekannte (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: István Kemény
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Kategorie der bestproportionierten Bäume. Es gibt nämlich in unserer Familie Kategorien für Tannen, aber egal … Mein Onkel und meine Tante wohnen in einer typischen alten Budapester Wohnung mit enorm hohen Räumen. Ihr Baum gehört dorthin, in die Mitte des Wohnzimmers, er ist wunderschön. Wir schaffen es zu dritt kaum, ihn bis zum Belgrad-Kai zu tragen.“
    „Drei Engelchen“, sagte sie mit einem breiten Lächeln, doch dann verfinsterte sich ihr Gesicht. „Und was passiert dann mit dem Baum? Kommt er auf die Straße?“
    „Erzähl lieber du von deiner Reise.“
    Sie schüttelte den Kopf. Sie wolle darüber nicht sprechen. Es hatte sich herausgestellt, dass Giuliano und sie sich missverstanden hatten. Er hatte eine Familie, und das versprochene Zimmer befand sich nicht bei ihm, sondern bei einem seiner Freunde. Und als Giuliano aus der Wohnung seines Freundes nach Hause, zu seiner Frau, ging, kam Giulianos Freund an. Und am Abend kamen noch zwei weitere gemeinsame Freunde von ihnen. Die ebenfalls Opfer eines Missverständnisses waren. Und das waren erst die ersten beiden Tage der Reise. Das war es, was sie mir nicht erzählen wollte. Ich erfuhr es später von Frau Mirák, nachdem sie ihren Standpunkt bezüglich der Sache mit Schwesterchen und mir geändert hatte.
    „Was hat mein Bruder über mich gesagt? Dass ich krank bin, oder? Das stimmt nämlich nicht.“
    „Dass du krank bist?“
    „Hat er es nicht gesagt?“
    „Nein.“
    „Du glaubst doch auch, dass ich krank bin, stimmt’s?“
    Ich schüttelte den Kopf. Dabei wusste ich, dass sie in psychiatrischer Behandlung gewesen war. Und das mehrmals. Sie glaubte, ich glaube, sie habe eine
erworbene Immunschwäche
. Davon hatte ich jedoch noch gar nichts gehört. Sie glaubte, ich wolle sie schonen, habe jedoch Angst vor der Krankheit. Ich hatte Angst davor, sie könne glauben, ich sei in sie verliebt. Sie glaubte, ich wolle der Sache mit ihr ein Ende bereiten, traue mich nur nicht, da ich befürchte, sie würde sich umbringen. So war es auch. Das befürchteten alle.
    „Sicher?“
    „Sicher.“
    „Ich bin schon vor einer Woche zurückgekommen, war nur ziemlich fertig. Aber jetzt geht es mir wieder gut.“
    Dann gingen wir in die Sóház Straße. Wir liefen auf und ab. Besahen uns die Tannen.
    „Trotzdem, es ist so schade, diese ganzen Bäume umzubringen.“
    „Jetzt sind sie noch nicht tot“, sagte ich. „Sie sind voller Feuchtigkeit. Solange sie einen Geruch verströmen, leben sie noch.“
    Sie nickte, um mir zu bedeuten, ich solle sie überzeugen. Also versuchte ich, sie ins Mysterium der Sache einzuweihen. Ich hatte dafür eine eigene Theorie parat. Über dieses Problem hatte ich mir schon früher den Kopf zerbrochen: Ich hatte mir für mich selbst eine Rechtfertigung für die jährliche Abschlachtung mehrerer Millionen von Tannen zurechtgelegt.
    „Ich glaube“, erklärte ich, „der Weihnachtsbaum ist in Wirklichkeit ein Lebewesen für sich. Er ist keine Tanne mehr, aber auch noch nicht einfach … Holz. Sondern eben ein Weihnachtsbaum. Sein Dasein beginnt in dem Moment, in dem er gefällt wird. Und er lebt, solange er geschmückt ist.“
    Es gelang mir nicht, sie mit diesem Blödsinn zu überzeugen. Mich selbst noch weniger.
    „Das Problem ist, dass wir alle umbringen, die wir lieben“, sagte sie mit einem Seufzer.
    Und, als hätte sie mir die Entscheidung, sie ihrem Schicksal zu überlassen, erleichtern wollen, fügte sie noch eine dumme Bemerkung hinzu.
    „Wie die armen Schafe wegen der Wolle.“
    Für die Wolle bringen wir sie nicht um, sondern scheren sie, dachte ich traurig. Dann fiel mir ein, dass wir die armen kleinen Lämmlein manchmal auch für die Wolle umbringen. Wenn wir sie samt Haut brauchen. Also hatte sie doch recht. Dann dachte ich daran, dass nichts wichtiger ist, als zu lieben und an die Stimme, die mir das immer wieder sagte. Und dass mir das gelingen würde, sonst wäre sowieso alles für die Katz.

19.
EPILOG
    Der Ball fand im alten Gebäude des Instituts für Herausgabe von Enzyklopädien (IHE) statt, einer Stadtvilla in der Sándor-Bródy-Straße, von wo aus das IHE in den sechziger Jahren vorübergehend in das damals lediglich zukünftige Gebäude der Korvin Bibliothek auf dem Burgberg gezogen war. Das Gebäude in der Bródy war jetzt von einem Baugerüst umgeben, und zwar einem doppelten, da das alte morsch geworden war, und man deshalb vor ungefähr zehn Jahren ein zweites, stützendes Gerüst ums erste errichtet

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