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Liebe Unbekannte (German Edition)

Liebe Unbekannte (German Edition)

Titel: Liebe Unbekannte (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: István Kemény
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hatte. Hinter dem Gerüst war an der Wand, wie an jedem anständigen Haus in Budapest – in einer Höhe, die den Betrachter nachdenklich stimmte –, eine Marmortafel angebracht, auf der markiert war, wie hoch das Donau-Hochwasser im März 1838 gewesen war. Das war jedoch jetzt, wegen des Gerüsts, nicht zu sehen. Hawking wäre mit diesem Gebäude zufrieden, dachte Gábor, als er es betrat, es lässt bestimmt nirgendwo anders Chaos entstehen. Ganz im Gegenteil.
    Seit Mittag arbeiteten die Enthusiastischeren unter den jüngeren Mitarbeitern der Korvin Bibliothek und des IHE daran, die erste Etage bis zum Abend in einen vorzeigbaren Zustand zu bringen. Die Heizung war in dieser Etage früh am Morgen angeschaltet worden, und mittlerweile war die Temperatur in den Sälen ganz passabel. Man konnte sogar schon im aufgeknöpften Mantel herumlaufen. Im Erdgeschoss befanden sich die Verwaltungsbüros des IHE, die Wirtschafts-, Finanz- und Personalabteilungen, die in den sechziger Jahren doch im Gebäude geblieben waren, das aus Dankbarkeit seitdem immer noch nicht über ihnen eingestürzt war. In den Sälen der ersten Etage gab es außer der Heizung und der Trostlosigkeit so gut wie gar nichts. Nur Stühle, zunächst noch gestapelt.
    Und die Tanne. Um der Trostlosigkeit ein bisschen entgegenzuwirken. Sie war ein Repräsentant der Kategorie
drei Meter hoch und perfekt
. Ich hatte sie ausgesucht. Ich hatte mich nicht getraut, eine größere zu nehmen, da ich sie nicht hätte tragen können. Es war jedoch ein sehr schöner Baum. Sogar ein bisschen höher als drei Meter. Ich war zwar kein sehr kräftiger Bursche, aber bis zur Bródy schleppte ich ihn trotzdem. Ich umarmte ihn, um ihn zu tragen. Er war nicht besonders schwer, nur nicht einfach zu greifen: Die Äste waren so dicht gewachsen, dass man ihn kaum umarmen konnte. Wir blieben an jeder Ecke stehen, um eine Pause zu machen. Éva Viola Dévais Aufgabe wäre es gewesen, mich anzuspornen, wozu sie allerdings aufgrund ihrer seelischen Konstitution unfähig war, sie lief jedoch neben mir her und sagte immer wieder, ich solle mich ruhig noch ausruhen, wir hätten Zeit. Und sie trug den Baumständer und die kleine Axt. In der Bródy gab es bereits Helfer. Einige kräftige Burschen. Sie lachten ein bisschen über uns, übernahmen dann jedoch die Aufgabe, die Tanne aufzustellen, denn die Trostlosigkeit im großen Saal störte jeden. Sie stellten sie später auch auf, vorerst legten sie sie jedoch auf den Boden, da es noch etwas anderes zu tun gab.
    Die Ausrüstung der Band war nämlich angekommen. Die kräftigen Burschen trugen nun Verstärker, Lautsprecherboxen in den großen Saal, schäbige schwarze Quader, die ihre Laufbahn ein gutes Jahrzehnt zuvor in München als zeitgemäße Technik einer damals noch als
Hard-Rock-Band
bezeichneten Gruppe langhaariger Bayern begonnen hatten und sie wahrscheinlich auf den Hochzeiten im Gebiet des Donau-Deltas beenden würden, falls sie sie überhaupt jemals beenden sollten, denn Hochzeiten wird es immer geben. Jetzt wurde diese Ausrüstung auf jeden Fall hier ausgeladen, in der besagten Stadtvilla in der Sándor-Bródy-Straße in Budapest, Mitte der achtziger Jahre des 20. Jahrhunderts.
    Ich sah nicht mehr, wie sie in die erste Etage getragen wurde, da die Zeit verflogen war und ich nach Hause rennen musste, um am Abend rechtzeitig wieder da zu sein. Die Überraschung von Erika und Gerda wartete auf mich. Und ich wollte duschen und mich umziehen. Als ich am Morgen mit Gábor losgegangen war, hatte ich dieselbe Kleidung an wie am Tag zuvor. Außerdem musste ich Erika Bescheid sagen, dass der Ball nicht in der Burg, sondern in der Sándor-BródyStraße stattfinden würde. Ich ahnte, dass sie am Ende sowieso nicht mitkommen würde, wenn ich jedoch nicht nach Hause ginge, würde mich die ganze Zeit der Gedanke verrückt machen, sie könne vielleicht doch in die Burg gefahren sein. Ich musste vor dem Ball also auf jeden Fall zu Hause vorbeigehen. Außerdem hatte ich noch einen geheimen Plan. Doch nicht zurückzukommen. Zu Hause zu bleiben und fernzusehen. Mich erwartete hier sowieso niemand, vielleicht mit Ausnahme von Schwesterchen. Was sie betrifft, dachte ich, wäre es jedoch besser, wenn wir uns nicht mehr sehen würden.
    „Gehst du?“, fragte sie.
    „Öööh“, sagte ich. „Ich muss noch mal nach Hause, weil … Bis heute Abend.“
    Also sagte ich doch etwas, was ich nicht hatte sagen wollen: Ich machte ein Versprechen.
    Sie nickte und

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