Liebe und andere Parasiten
Zugtoilette. O’Donabháins Lesung war an einem Wochentag um elf Uhr vormittags und damit eine der frühesten. Er ist mittlerweile ein harmloser alter dichtender Mörder, dachte man in Wales allem Anschein nach; seine Lesung wurden mit drei Zeilen irgendwo in der Mitte des Festivalprogramms angekündigt und gehörte zu einer Reihe, die sich »Bekehrte Stimmen« nannte. Andere bekehrte Stimmen waren ein weißer südafrikanischer Polizist aus der Zeit der Apartheid, ein reuiger Heroindealer mit einer Insiderdarstellung des Geschäfts und ein meineidiger Parlamentsabgeordneter, der im Gefängnis Jesus gefunden hatte. Sie hatten Nachmittags- und Abendtermine bekommen. O’Donabháin war anscheinend niedriger eingestuft worden.
Der Spaziergang vom Bahnhof zum Festivalgelände im warmen Wind und prallen Sonnenschein hob Becs Stimmung. Als sie in die künstliche Helle des Konferenzzentrums trat und ihre Sohlen auf dem weitläufigen Teppichboden quietschten, drehte sich ihr wieder der Magen um, und ihr Herz hämmerte. Mit hängendem Kopf stand sie in der Toilettenkabine, die Arme an den Rand des Spülkastens gepresst, und der Speichel lief ihr von der Unterlippe. Sie hatte sich für einen blauen Pullover, Jeans und Turnschuhe entschieden und nichts an ihrem Gesicht gemacht. Jetzt wünschte sie, sie hätte eine Make-up-Maske aufgelegt, Stöckelschuhe und ein elegantes Kostüm und Schmuck angezogen, sich ein strenges Aussehen gegeben. Um fünf nach elf schritt sie durch das Foyer zu der Tür mit dem aufgeklebten Zettel »11 Uhr – Colum O’Donabháin«.
Der Raum war kleiner, als sie erwartet hatte; etwa ein Dutzend Reihen mit je zehn Klappstühlen waren durch einen Mittelgang getrennt. Die Hälfte der Plätze war besetzt. Am hinteren Ende des Raumes saßen zwei Männer mit Ansteckmikrofonen hinter einem Tisch: ein großer über fünfzig mit weißen Haarbüscheln hinter den Ohren und einer dickrandigen Brille mit runden Gläsern, der den Kopf hin und her drehte wie ein Rasensprenger, und ein massiger älterer Mann mit niedergeschlagenen Augen, dem sichtlich unwohl war.
O’Donabháin war gealtert, seit sein Dichterporträt aufgenommen worden war. Der Kragen seines weißen Hemdes war zerknittert. Er ist nur ein Mensch, dachte Bec und setzte sich in die hinterste Reihe nahe der Tür. Es war, als ob derjenige, dem zu begegnen sie sich gefürchtet hatte, noch erscheinen müsste. Und doch war er es. Die notwendige Gefühlsverbindung zwischen dem Mann am Tisch und dem Mann, der ihren Vater exekutiert hatte, kam nicht zustande, die Zeit hatte die Spur verwischt. Er war entkommen.
»Sollen wir anfangen?«, sagte der Mann mit der Brille. O’Donabháin sah ihn verwundert an, als merkte er erst jetzt, dass er nicht allein war, und begann, mit dem Daumen in seinem Buch zu blättern.
»Ich bin Dale Luthbridge«, sagte O’Donabháins Gesprächspartner, »und es ist mir ein großes Vergnügen, Ihnen den Dichter Colum O’Donabháin vorzustellen, der zum ersten Mal in Wales ist, glaube ich, ja? Colum wird heute aus seiner neuen Sammlung Back Road vorlesen, die den McGarragle-Preis für den besten Lyrikband eines früheren Strafgefangenen aus Irland gewonnen hat.«
»Sie war die einzige auf der Liste«, sagte O’Donabháin.
Die Zuhörer lachten, und Bec stand auf und verließ den Raum. Sie hatten mit ihm gelacht; die Atmosphäre war herzlich gewesen.
Im Foyer stand ein Tisch mit einer weißen Decke und kleinen Stapeln von O’Donabháins schlanken Bändchen. Bec griff sich ein Exemplar von Back Road und wollte damit weggehen, doch das Mädchen hinter dem Büchertisch rief sie zurück und meinte, der Preis sei neun Pfund fünfundneunzig.
»Dafür? Geht etwas davon an den Dichter?«
»Ungefähr ein Pfund, nehme ich an«, sagte das Mädchen. »Aber genau weiß ich es nicht. Es ist Lyrik. Damit ist nicht viel Geld zu verdienen.«
Bec bezahlte. Auf dem Cover war der Stich einer Landstraße, die sich zwischen Feldhecken über Hügel schlängelte. Sie sah sich die Hecken genau an. Auf dem Bild waren keine Menschen. Ihre feuchten Fingerkuppen hinterließen schwache Abdrücke auf dem porösen sahnefarbenen Papier. Die Tatsache, dass sie O’Donabháins Stimme gehört hatte, kam ihr entsetzlich vor. Sie zögerte vor der Tür des Raumes. Applaus erscholl, und sie drückte die Klinke, schlüpfte hinein und ging zu ihrem Platz zurück, während O’Donabháin seine Gedichte vorzulesen begann.
Wieder erschien er Bec zu lasch und zu leise
Weitere Kostenlose Bücher