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Liebe und andere Parasiten

Liebe und andere Parasiten

Titel: Liebe und andere Parasiten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Meek
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für den Mann, der ihren Vater gefoltert und getötet hatte. Mit ruhiger, eintöniger Stimme trug er seine Verse vor, über sein Buch gebeugt, als spräche er mit dem Tisch. Er lyrisierte verschiedene Vögel, Treibholz, eine nicht näher benannte Reue. Er rezitierte ein komisches Gedicht über die Erfahrung, der Einzige in einer Gruppe zu sein, der nicht Gälisch sprach. Die Zuhörer lachten mit. Becs Wangen brannten.
    Der Zeitpunkt kam, Fragen zu stellen. Eine Frau Mitte fünfzig mit kurzen weißen Haaren, einer lila Weste und riesigen Ohrringen fragte O’Donabháin, warum er das Gedicht »Das Rätsel vom kleinen einzelnen Soldaten« nicht gelesen habe.
    »Das habe ich mich auch gefragt«, sagte Luthbridge zu O’Donabháin. »Es ist vom Stil her anders als Ihre übrigen Texte.«
    »Ja, es ist ein antiquierter englischer Stil«, sagte O’Donabháin. »Beinahe eine Persiflage. Es gab mal eine Zeit, da hörte ich viele altenglische Volkslieder über Zwangsrekrutierung, über die Presspatrouillen. Warum ich es nicht lese? Weil ich es nicht besonders mag, deshalb. Das Wort ›anthropomorphisiert‹ kommt darin vor. Das ist ein ziemlicher Mundvoll für einen alten Mann, der nie zur Uni gegangen ist. Sechs Silben, und der Vers holpert. Ich kaufe ein Auto, und es passt nicht in die Garage.«
    Sie lachen schon wieder!, dachte Bec. Sie machen sich’s mit ihm gemütlich!
    Ein großer Mann in blauem Blazer, roter Hose, gelbem Hemd und einem Halstuch unter den roten Hängebacken stand auf und sagte laut und betont: »Ich wüsste gern, was ein verurteilter Mörder und Folterer« – er schien das Wort »Folterer« mit Genuss auszusprechen, als probierte er den ersten Happen eines heißen, knusprigen Leckerbissens – »nach seiner unmenschlichen Behandlung eines verdienten britischen Offiziers auf dem britischen Festland zu schaffen hat.« Man hörte lautes Luftschnappen und den Ruf »Lesen Sie das Programm!«. Der Mann blickte sich um und hob die Stimme. »Ihre Anwesenheit ist eine Beleidigung der Familie von Captain Shepherd, bei der Sie sich niemals für Ihr feiges und ungeheuerliches Verhalten entschuldigt haben.«
    O’Donabháin sagte: »Die Frage war, was habe ich hier zu schaffen? Das ist eine Frage, die ich mir jeden Tag stelle, überall, wo ich bin. Die Leute haben viele Vorstellungen von Verbrechen und Strafe. Sie glauben, auf das eine folgt immer das andere. Das ist nicht so, mehr habe ich nicht zu sagen.«
    Nach der Lesung verließ O’Donabháin den Raum mit Luthbridge und setzte sich ins Foyer hinter den Büchertisch. Bec beobachtete ihn, wie er für vier Leute Bücher signierte. Der Mann mit den roten Hosen ging. Bec trat an den Tisch und hielt O’Donabháin das Buch hin, als er gerade aus einer Flasche Wasser trank. Er stellte die Flasche hin, wischte sich mit dem Ärmel den Mund ab und schlug das Buch auf der Titelseite auf. Er hielt den Kugelschreiber darüber und legte fragend den Kopf schief.
    »Schreiben Sie: Für Bec Shepherd«, sagte Bec.
    O’Donabháin hatte sich über die Seite gebeugt, bevor sie ihren Namen nannte, und sie konnte die kahle Stelle auf seinem Kopf sehen. Ein paar Sekunden lang verharrte der Hautfleck über dem Buch. Der Kugelschreiber bewegte sich nicht. O’Donabháin blickte langsam auf und sah sie durchdringend an. Er wirkte unsicher. Bec meinte, den Mörder in ihm hervortreten zu sehen, und sie musste sich zusammenreißen, um nicht zurückzuweichen und eine ruhige Stimme zu bewahren.
    »Wissen Sie, wer ich bin?«, sagte sie.
    O’Donabháin nickte. Er wirkte jetzt weniger unsicher als gespannt.
    »Ich habe Ihnen ein paar Dinge zu sagen«, sagte sie. »Kommen Sie mit nach draußen.«
    Sie ging ihm voraus durchs Foyer, die Treppe hinunter und ins Tageslicht hinaus, ohne sich umzusehen. Aus irgendeinem Grund war sie sich sicher, dass er hinter ihr war. In der Nähe des Konferenzzentrums war ein an zwei Seiten von Stufen begrenztes Plätzchen, wo Skateboarder Kunststücke vollführten und Festivalbesucher und Studenten, die Sommerkurse belegten, Brote verzehrten. Bec setzte sich auf die Stufen, und O’Donabháin ließ sich mit einiger Mühe auf einem Platz ein Stück weiter nieder. Er hatte ihr Exemplar seines Buches in der einen Hand und die Wasserflasche in der anderen.
    »Mein Bruder meint, ich sollte Ihnen vergeben, und ich habe darüber nachgedacht«, sagte Bec. »Es scheint ihm sehr wichtig zu sein, und ich würde ihm gern den Gefallen tun, weil es mich belastet, wenn er

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