Liebe und andere Parasiten
sagte sie. »Bin ich wirklich so frei? Wie denn, woher denn? Ich beobachte tagtäglich einzellige Organismen, die sich vermehren, fressen und sterben, und ich frage mich, wie ich auf einem Objektträger aussehen würde, achtzig Jahre zu einer Minute zusammengerafft.«
»Parasiten fahren nicht solche Schlitten«, sagte Ritchie und tätschelte das Armaturenbrett. Er fuhr links auf den Randstreifen, um seiner Schwester die Beschleunigung von null auf hundert vorzuführen.
13
Das Ausgehen der Triebwerke, das Aufschnappen der Sitzgurtschnallen und das Schaben des aus den Fächern gezogenen Handgepäcks, die überlauten Bedankungen der Crew und das knisternde Schweigen der Fluggäste, die im Gang darauf warteten, dass die Türen geöffnet wurden, dies alles hielt Stephanie Shepherd nicht davon ab, an ihrem Platz zu bleiben und ihr Ernährungstagebuch zu führen. Sie hatte nicht vor, sich wegen ihrer Kinder zu beeilen, und es verstimmte sie, dass sie nach London fliegen musste, um zwischen den Plänen ihres Sohnes, dem Anstandsgefühl ihrer Tochter und der Abwesenheit ihres Mannes zu vermitteln. Ritchie und Bec hatten beide einen festen Platz in ihrem Herzen, aber mehr und mehr erschienen ihr Sohn und Tochter wie die Unterbrechung von etwas unfassbar Schönem, deren harmonische Fortsetzung ihre Enkel waren.
Als das Flugzeug in Gatwick andockte, durchzuckte Stephanie die nervöse Befürchtung, die Kontrolleure würden an ihrem Pass etwas auszusetzen haben. Sie würden von ihr den »Grund für Ihren Besuch « wissen wollen. »Ich bin Engländerin. Ich bin hier zu Hause«, würde sie mit unsicherer Stimme sagen. Die Leute, die Pässe kontrollierten, waren noch nie nach ihrem Geschmack gewesen, wollte ihr scheinen, aber inzwischen waren sie weniger denn je nach ihrem Geschmack. Sie waren so gemischt. Sie hatte nicht gewusst, was sie zu den Unteroffiziersfrauen sagen sollte, als Greg noch gelebt hatte. In der Beziehung war sie eine schlechte Hauptmannsfrau gewesen. Aber wenn sie damals gewusst hätte, dass sie heute Geduld für jemanden würde aufbringen müssen, dessen Eltern in Karatschi geboren worden waren und der die Macht hatte, im Schein eines rätselhaften Apparats ihren Pass zu überprüfen, dann hätte sie sich bestimmt leichter damit getan, mit der Frau eines Oberfeldwebels aus einer Sozialwohnung in Plymouth Konversation zu machen.
Sie hatte einen Ratgeber über die Säftelehre offen auf dem Schoß liegen und das Ernährungstagebuch schräg darüber. Ihr Humoralpathologe hatte angeordnet, dass sie den Ratgeber und die Tabellen darin in Verbindung mit dem Tagebuch dazu benutzte, Blut, Schleim und Galle in einem ausgewogenen Verhältnis zu halten. Bei ihm hatte es ganz einfach geklungen, und die Nudeln, die sie im Flugzeug bekommen hatte, waren eindeutig »warm und feucht« gewesen. Aber war es eine Hundert- oder Zweihundert-Gramm-Portion gewesen? Wieso war in der Tabelle Orangensaft als »trocken« und Schokoladeneis als »warm« aufgeführt? Wenn Kohl »warm und trocken« und Mayonnaise »kalt und feucht« war, war dann Krautsalat vollkommen ausgewogen, sodass man davon so viel essen konnte, wie man wollte?
Stephanie war sich sicher, dass sie ihren Körper verstand und dass sie jetzt, erst jetzt, nach ungeheuren Anstrengungen und umfassenden Nachforschungen in Monatszeitschriften und im Internet, kurz vor dem Punkt war, sagen zu können, dass sie vollkommen gesund war. Zum ersten Mal in ihrem Leben, mit vierundsechzig, konnte sie anfangen zu leben.
Sie wollte furchtbar gern wissen, was ihre Tochter von der humoralen Ernährung hielt, aber war sich nicht sicher, wie sie die Sprache darauf bringen sollte. Sie kannte die Miene, die ihre Tochter machte, wenn sie etwas missbilligte. Wie, fragte sich Stephanie, sollten Wissenschaftler Fortschritte machen, wenn sie sich gegen neue Ideen verschlossen?
Stephanie lebte in Spanien, seitdem ihr Sohn in den Augen der Welt zu Glanz und Ruhm gelangt war. Mit zweiundzwanzig war Ritchie von mehreren schwindelerregend hohen Geldbeträgen überschüttet worden und hatte Stephanie ungefragt ein Haus in Spanien gekauft. Bec war da schon in Cambridge; Stephanie nahm das Geschenk mit Freuden an und zog um. Nach Gregs Ermordung hatte sie aus Dorset fortgewollt. Sie konnte die Schlucht am Ende ihres Gartens und das ferne Rauschen des Wassers nicht leiden, das sich mit Musik abschwächen, aber niemals ganz abstellen ließ. Sie konnte es nicht leiden, wie die Krähen aus den Bäumen in
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