Liebe und andere Parasiten
ihre abendliche Schwimmrunde drehen würde, dass Shada für sie unter der Pergola einen Gin Tonic bereitstehen hätte, aber wenn sie ihr herrliches Leben in Spanien pries, konnte sie sich hinterher nicht mehr so gut über die Grausamkeit ihres aufgezwungenen Exils beklagen.
»Ich bin schon seit Jahren nicht mehr in einem Pub gewesen«, sagte Stephanie am Tresen des Carter’s Arms, verwirrt über die Verbindung von weißen Tischdecken und biertrinkenden, rotbackigen Jungen und über fantasievolle Empfehlungen von Markknochen und Queller auf der eng beschriebenen Tafel mit der Speisekarte. »In Spanien gehe ich natürlich nicht in die englischen Pubs.«
Als Stephanie Bec auf Val ansprach, wurde die Frage beantwortet, allerdings nicht mit Äußerungen wie vielleicht »wunderbar« oder »treffe ihn morgen«, sondern mit einem plötzlichen Abstand zwischen ihnen und einer Bedrücktheit, die Bec anscheinend für sich behalten wollte. Von der Panik erfasst, dass sie ihre Tochter verlor, sagte Stephanie: »Die Humoralpathologie schlägt bei mir gut an. Zum ersten Mal im Leben fühle ich mich rundum wohl. Hast du schon mal davon gehört?«
Bec betrachtete die glänzend braun gefärbten Haare ihrer Mutter, die enthaarte Oberlippe, die gezupften Augenbrauen, die weichen Fältchen an den Mund- und Augenwinkeln, den um den Hals geschlungenen Seidenschal, das Sehnen in den blauen Augen. »Du siehst fantastisch aus«, sagte sie. »Du bist nie krank.«
»Die Kopfschmerzen, die Schlaflosigkeit, die ständige Müdigkeit? Die Gliederschmerzen? Die Verdauungsstörungen?« Sie drehte den Kopf zur Seite. »Die Falten.« Sie wedelte mit den Fingerspitzen andeutend über die Wange.
»Du bist fünfundsechzig«, sagte Bec.
»Vierundsechzig, wenn ich bitten darf.«
»Und du fühlst dich jetzt gesünder als früher mit siebzehn?«
»Ich glaube nicht, dass ich diesem Vergleich etwas abgewinnen kann«, sagte Stephanie. »Es kann lange dauern, zu einer gesunden Lebensweise zu finden.«
»Die lassen sich ständig neue Sachen einfallen, die man versuchen soll.«
»Man könnte meinen, du gönnst mir mein Glück nicht«, sagte Stephanie. »Siehst du, was du machst? Schau.« Sie strich sich mit dem Zeigefinger über die Stirn. »Falten.«
»Wenn du dich jetzt schon ein bisschen damit abfinden würdest, würde es dir später nicht so schwerfallen«, sagte Bec.
Ihre Mutter starrte sie mit zitterndem Kopf an, als sollte sie sich ja nicht unterstehen, deutlicher auszusprechen, was sie mit »später« meinte, und Bec wurde rot. »Was ist Humoralpathologie?«, fragte sie. »Heißt das, dass man die ganze Zeit lachen muss? Schau, Ritchie hat einen Platz für uns gefunden.«
Sie begaben sich in die holzgetäfelte Nische. Hinter dem Tresen tauchten große Flammen den Küchenbereich in rotgelbes Licht. Stephanie erzählte Bec von dem Buch, das sie als Lebensratgeber benutzte und das von den vier Körpersäften handelte, Blut, Schleim, schwarzer und gelber Galle, und von den vier Temperamenten, sanguinisch, phlegmatisch, melancholisch und cholerisch.
»Das ist mittelalterliche Medizin«, sagte Bec.
»Es ist noch älter. Die Humoralpathologie geht auf die Griechen zurück«, sagte Stephanie wohlgefällig. »Die Weisheit der Alten war groß.«
»Sie wussten nicht, dass das Herz Blut pumpt. Sie glaubten, Zahnschmerzen kämen von Würmern. Sie starben an ansteckenden Krankheiten, ehe sie dreißig waren.«
»Mein Humoralpathologe darf gern eine Meinung dazu haben, was für meine Gesundheit am besten ist.«
»Warum nicht gleich auf Strom verzichten, wenn du schon mal dabei bist?«
»Niemand will auf irgendwas verzichten, Schatz. Du musst es nicht persönlich nehmen, wenn jemand mal anderer Meinung ist als du. Dass meine Schwarzgallewerte erhöht sind, heißt noch lange nicht, dass ich nicht ins Internet gehen kann. Da bin ich überhaupt erst auf die Humoralpathologie gestoßen.« Sie lächelte und drückte die Hand ihrer Tochter. »Ich bin so stolz auf dich.«
»Das sind wir alle«, sagte Ritchie. Er setzte sich neben Stephanie und legte seinen Arm auf die Rückenlehne der Sitzbank. Die beiden saßen Bec gegenüber. Wenn Stephanie sich vorbeugte, um etwas zu sagen, beugte Ritchie sich mit vor. Mit einem Zittern in der Stimme sagte Stephanie: »Wir sind stolz auf dich, aber ich sehe nicht ein, dass ich jung sterben soll, bloß weil nur eine Art Wissenschaft offiziell erlaubt ist.«
»Mum«, sagte Bec. »Um jung zu sterben, ist es für dich schon zu
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