Lieben: Roman (German Edition)
Äußeren und der Tatsache zusammenhing, dass er sturzbetrunken war. Wir latschten stattdessen zu mir, und Lars schlief ein, während Jeppe und ich wach blieben, die Sonne ging auf, und er erzählte von seinem Vater, einem in jeder Hinsicht guten Menschen, und als er sagte, dass er tot war, lief eine Träne seine Wange hinab. Es war einer der Augenblicke, die mir für immer in Erinnerung bleiben werden, vielleicht weil das, was sich darin offenbarte, ohne Vorwarnung geschah. Es war nur sein an die Wand gelehnter und vom ersten dämmrigen Morgenlicht beleuchteter Kopf, die Träne, die seine Wange hinablief.
Am nächsten Tag frühstückten wir in einem Café, sie fuhren zum Flughafen, ich ging zurück, um zu schlafen. Ich hatte das Fenster offen gelassen, es hatte geregnet, das Notebook,
dessen Dateien ich nirgendwo sonst gesichert hatte, war klatschnass.
Ich schaltete es am nächsten Tag ein, es schien einwandfrei zu funktionieren. Es konnte einfach nichts mehr schiefgehen. Geir rief an, es war der 17. Mai, der norwegische Nationalfeiertag, wollten wir aus essen gehen? Er, Christina, ich und Linda? Ich erzählte ihm von unserer Diskussion, er sagte, es gibt einige wenige Dinge, über die man mit einer Frau niemals diskutieren sollte. Zum Beispiel Abtreibung. Verdammt, Karl Ove, fast alle Frauen haben schon einmal abgetrieben. Wie kannst du nur in so einen Fettnapf treten? Aber ruf sie an, es ist ja nicht sicher, dass es etwas zu sagen hat. Wahrscheinlich hat sie gar nicht weiter daran gedacht.
»Ich kann sie danach doch nicht einfach anrufen.«
»Was soll schon passieren? Wenn sie sauer ist, sagt sie einfach nein. Wenn nicht, sagt sie ja. Das musst du doch herausfinden. Du kannst ja schlecht aufhören, sie zu sehen, nur weil du glaubst , dass sie nichts mehr von dir wissen will.«
Ich rief an.
Doch, sie wollte kommen.
Wir saßen in der Crêperie, sprachen die meiste Zeit über das Verhältnis zwischen Norwegen und Schweden, Geirs Paradedisziplin. Linda sah mich oft an, sie wirkte nicht beleidigt, aber ganz sicher konnte ich mir erst sein, sobald wir allein sein würden und ich sie um Entschuldigung bitten konnte. Aber nein, dafür muss man sich doch nicht entschuldigen, sagte sie, du denkst, was du denkst. Das macht nichts. Und was ist mit Jeppe?, dachte ich, sagte aber natürlich nichts.
Wir saßen in der Volksoper. Es war Lindas Lieblingslokal. Bevor sie schlossen, spielten sie jeden Abend die russische Nationalhymne, und sie liebte alles Russische, vor allem Tschechow.
»Hast du Tschechow gelesen?«, sagte sie.
»Nein«, antwortete ich.
»Hast du nicht? Du musst ihn lesen.«
Wenn sie eifrig wurde, glitten ihre Lippen, unmittelbar bevor sie etwas sagen wollte, seitlich über die Zähne, und ich saß da und sah es, während sie sprach. Sie hatte so schöne Lippen. Und ihre Augen, graugrün und leuchtend, waren so schön, dass es schmerzte, in sie zu schauen.
»Mein Lieblingsfilm ist auch ein russischer Film. Die Sonne, die uns täuscht , hast du den gesehen?«
»Nein, leider nicht.«
»Den müssen wir uns mal zusammen ansehen. Da spielt ein fantastisches Mädchen mit. Sie ist bei den Pionieren, einer ganz unglaublichen politischen Bewegung für Kinder.«
Sie lachte.
»Ich habe das Gefühl, dass ich dir so viel zeigen muss«, sagte sie. »Apropos, im Kvarnen gibt es demnächst Buchtage für unabhängige Verlage, und zwar in … fünf Tagen. Ich werde dort lesen. Hast du Lust zu kommen?«
»Klar. Was wirst du lesen?«
»Stig Sæterbakken.«
»Warum denn das?«
»Ich habe ihn ins Schwedische übersetzt.«
»Ehrlich? Warum hast du mir das nicht erzählt?«
»Du hast nicht gefragt«, sagte sie und lächelte. »Er wird auch da sein. Das macht mich ein bisschen nervös, mein Norwegisch war nämlich damals nicht so gut, wie ich dachte. Aber er hat das Buch gelesen und hatte an der Sprache nichts auszusetzen. Magst du ihn?«
»Siamesisch mag ich sehr.«
»Das habe ich übersetzt. Zusammen mit Gilda, erinnerst du dich an sie?«
Ich nickte.
»Aber wir können uns doch vorher noch einmal treffen. Hast du morgen schon etwas vor?«
»Nein, ich habe Zeit.«
Über die Lautsprecheranlage erklangen die ersten Töne der russischen Nationalhymne. Linda stand auf, schlüpfte in ihre Jacke und sah mich an.
»Hier? Um acht?«
»In Ordnung«, sagte ich.
Der kürzeste Weg zu ihr führte die Hornsgatan hinunter, während ich in die andere Richtung musste.
»Ich begleite dich noch nach Hause«, sagte sie.
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