Lieber Onkel Ömer
sehr
viel und sehr hart. Dass meine Tante Ülkü das nicht entsprechend würdigt, ist natürlich sehr tragisch, aber in der Hinsicht
geht es vielen Ehemännern so. Welche Frau ist schon mit der Arbeit ihres Mannes restlos zufrieden, frage ich Dich?
Diese undankbaren Frauen bezweifeln tatsächlich, dass Kartenspielen ernsthafte Arbeit sein soll. Aber das ist natürlich nur
Frauengeschwätz, ich bin nach wie vor genau wie Du der Ansicht, dass wir schlichtweg etwas Übermenschliches leisten, indem
wir jeden Tag über zehn Stunden im Männercafé unseren Mann stehen – ich kann leider nur am Wochenende!
|87| Was Arbeit ist, das weißt Du also, aber was »Tag der Arbeit« ist, das weißt Du nicht. So was gibt es in der Türkei nämlich
gar nicht. Es gibt ihn schon ein bisschen, aber in leicht veränderter Form. Ein bisschen orientalischer halt. Erstens heißt
es in der Türkei nicht »Tag der Arbeit«, sondern »Tag des Polizeiknüppels«. Zweitens ist es in der Türkei kein Feiertag, sondern
ein ganz normaler Arbeitstag. Somit kein Tag für die Arbeiter, sondern für Arbeitslose. »Tag der Arbeitslosen« könnte man
auch sagen. Ab und zu nehmen schon ein paar Arbeiter am »Fest der Polizei und der Arbeitslosen« teil, aber das sind Leute,
die von ihren Chefs extra freibekommen haben, damit sie dabei verprügelt, verkrüppelt oder am besten getötet werden, damit
der Arbeitgeber keine Strafe zahlen muss, wenn er sie selber verprügelt oder fertigmacht. Obwohl die Polizei sich jedes Jahr
richtig Mühe gibt, ist der Rekord vom 1. Mai 1977 in Istanbul immer noch nicht gebrochen worden, nämlich genau sechsunddreißig
Tote und einhundertdreißig Schwerverletzte. Aber in der Türkei gibt man die Hoffnung nicht auf, und die Kollegen von der Polizei
arbeiten hart daran.
Dass an diesem »Tag der Polizei und der Arbeitslosen« in der Türkei trotzdem sehr viele Menschen teilnehmen, ist doch logisch.
Es gibt Millionen von Arbeitslosen, und der Staat stellt pro Demonstrant drei Polizisten bereit, die auf ihn einprügeln sollen.
Also die Arbeiterklasse ist nicht dabei, aber dafür ist die Polizeiklasse vollzählig versammelt – mit allen Klassen sogar.
Und sie nutzt diesen Tag sehr gewissenhaft für praktische Weiterbildungsmaßnahmen. Die fortgeschrittenen Polizeiklassen zeigen
den Anfängerkollegen aufopferungsvoll und mit Hunderten von praktischen |88| Beispielen, wie man friedliche Demonstranten mit Hingabe windelweich prügelt.
Also, Onkel Ömer, die Vorgehensweise der türkischen Regierung, den 1. Mai nicht zum Feiertag zu erklären und alle Demonstrationen
zu verbieten, macht schon Sinn. Schließlich heißt dieser Tag doch »Tag der Arbeit« und nicht »Tag der Demonstration«. Man
muss an diesem Tag arbeiten. Am Muttertag besucht man ja auch die Mutter und nicht den Schwippschwager.
Aber hier in Alamanya ist alles ein bisschen anders. Hier gehen die degenerierten Arbeiter am »Tag der Arbeit« lieber picknicken
als zur Arbeit und der desinteressierte Staat findet das auch noch vollkommen okäy. Und so was soll ein Sozialstaat sein,
dass ich nicht lache!
Wie Du ja weißt, bin ich erwiesenermaßen der einzige echter Arbeiter bei uns in der Familie, trotzdem sind alle anderen immer
viel aufgeregter als ich und bereiten sich stundenlang fröhlich auf den 1. Mai vor – so wie gestern! Was mich natürlich immer
sehr ärgert; ich klaue meiner Frau ja auch nicht den Muttertag!
Eminanim packte die gefüllten Paprikas, die weißen Bohnen, Reis und die Köfte-Bällchen in mehrere Tüten und wollte mit ihren
Freundinnen zusammen wie jedes Jahr am 1. Mai im Park ausgiebig picknicken und grillen.
»Frau, Frau, es heißt › Tag der Arbeit‹ und nicht › Tag der Hausfrau‹, der war doch gestern und vorgestern und vorvorgestern
und wird noch den ganzen Monat und dann auch noch bis Ende des Jahres sein«, kritisierte ich ihr respektloses Vorgehen höchst
ironisch. Aber meine ironische |89| Kritik interessierte sie nicht die Bohne, sondern nur die Bohnen in Tomatensoße.
Meine feministische Tochter Nermin nahm sich an dem Tag vor, mit noch feministischeren Frauen gemeinsam irgendwo am Stadtrand
viele Bäume zu pflanzen, und packte Spaten und Hacke zusammen.
Mein kommunistischer Sohn Mehmet, der sich in Alamanya noch nicht so richtig integriert hat, pflegt die türkische Kultur und
wollte am 1. Mai mit einigen anderen Chaoten zusammen demonstrieren und die
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