LIEBES ABENTEUER
ist der erste Gedanke, der mir in mein Spatzenhirn kommt, und einen Augenblick lang feiere ich die Tatsache, dass mein Leben weitergeht. »Du willst jetzt rüberkommen? Ich dachte, du bist müde?«
»Bin ich auch. Aber... ich muss dich einfach sehen, Ash.«
In seiner Stimme liegt ein Hauch von Verzweiflung, und jetzt setzt die perspektivische Veränderung ein. Ich habe im Kunstunterricht gelernt, dass etwas, das weiter weg ist, für das menschliche Auge kleiner erscheint. Während Seth sich von mir entfernt (in diesem Fall von mir wegfliegt), verändert sich seine Perspektive. Er verzehrt sich danach, bei mir zu sein, aus Angst, einen schrecklichen Fehler begangen, eine vollkommen falsche Perspektive gehabt zu haben. Er muss wieder näher kommen, um festzustellen, ob seine Perspektive richtig war. Ich bin nicht in der Stimmung, ihm diese Gelegenheit zu bieten.
Ich schlucke hörbar. »Nicht jetzt. Das Baby schläft, und ich bin fix und fertig.«
Die Perspektive wird wieder kleiner (wie ein Heliumballon, den man in den Himmel fliegen lässt). »Bitte, Ash. Ich muss dich sehen.«
Soweit ich mich erinnern kann, ist das das erste Mal, dass Seth etwas Spontanes tut. Ich habe weder meine Schminktasche noch saubere Kleidung hier, aber ich denke, ich sehe aus, wie eine Hausfrau auszusehen hat - müde. Ich laufe zum Spiegel und zwicke mich in die Wangen wie Scarlett, aber es bringt nichts. Ich sehe immer noch aus wie Melanie Wilkes, wenn ihre Haare nicht richtig liegen. »Na gut, aber nur kurz. Ich muss schlafen.« Ich lege auf und bin genervt, weil ich es nicht geschafft habe, Nein zu sagen.
Rhett fängt laut an zu bellen. »Psst. Psst. Rhett, du weckst das Baby auf.«
Aber es ist schon zu spät. Innerhalb von nur zwei Sekunden schreit Miles wie ein Rocksänger. Ich sprinte nach oben, aber als er sieht, dass ich nicht seine Mama bin, fängt er richtig an zu heulen.
»Miles, ich bin’s, Tante Ashley.« Ich nehme ihn in den Arm, drücke ihn an meine Brust und wiege ihn hin und her, während ich im Zimmer auf und ab gehe. »Ist schon gut, Miles«, versuche ich nervös, ihn zu beruhigen. »Deine Tante ist ja da.«
Aber Miles steigert sich immer mehr in sein Gebrüll hinein, und dann erbricht er, und alles läuft an mir herunter. Jetzt sehe ich also verschlafen aus, trage kein Make-up und rieche nach Erbrochenem. Meine Träume von einer romantischen Begegnung sind spätestens damit zunichtegemacht. Na gut, vielleicht nicht von einer romantischen Begegnung, aber wenigstens von ein bisschen Reue auf Seths Seite. Schließlich bin ich auch nur ein Mensch und würde ihn gerne ein bisschen leiden sehen.
Wenigstens hat Miles sein Bett nicht schmutzig gemacht. Aber dann schaue ich genauer hin. Sein Bett ist voll. Der arme kleine Kerl ist krank.
»Oh, Miles!« Ich lasse Wasser in die Badewanne laufen und überlege, wie ich ihn in darin baden soll, bis ich beschließe, dass es am einfachsten ist, wenn ich mit ihm in die Wanne steige. Ich ziehe mich bis auf die Unterhose aus, steige in die Wanne und lehne ihn gegen meine Schienbeine, damit er aufrecht sitzt. Dann wasche ich ihn mit Babyshampoo, und er weint immer noch ein wenig, aber das warme Wasser beruhigt uns beide. Er versteht nicht, warum er sich jetzt schlecht fühlt und warum ich das mit ihm mache, und legt sein Gesicht in Falten.
Als ich aus der Badewanne steige und uns beide abtrockne, sehe ich, dass auf dem Waschbecken eine Babywanne steht. »So geht das also, was?«
Miles starrt mich nur an, als wäre ich ein ahnungsloser Dummkopf. Ich habe ihm gerade einen weichen blauen Strampler angezogen, da klingelt es. Noch habe ich keine Hose an, und in seinem Bett ist immer noch Erbrochenes.
»Einen Moment!«, rufe ich. Ich steige schnell in den Rock, den ich im Gottesdienst anhatte, nehme eines von Johns T-Shirts und lege Miles über meine Schulter. »Du armer Kleiner«, sage ich noch einmal. Während wir die Treppe hinuntergehen, bürste ich seine dichten, braunen Locken, und mit seinem Strampler und seinem perfekt gescheitelten Haar sieht er wieder ganz manierlich aus. Als ich an die Türe komme, steht Seth draußen. Er hat ein rot-goldenes Tuch um, und seine blauen Augen dringen bis in mein Innerstes. Diese Augen machen mich ... nun, früher machten sie mich machtlos. Im Augenblick machen sie mir ein wenig Angst.
»Für dich, Mademoiselle.« Seth nimmt das Tuch ab und legt es um Miles und mich. Dann kommt er auf uns zu und drückt mir einen Kuss auf die Lippen. Miles
Weitere Kostenlose Bücher