LIEBES LEBEN
demonstrieren. Was nützt sie mir, wenn ich sie nicht auch anderen gegenüber zeigen kann?
»Ashley, hier ist deine Mutter.«
Durchatmen! Das ist die erste Prüfung. »Hallo Mama!«, antworte ich kraftvoll. Kommt schon! Sagt mir alle, dass ich alt bin, dass ich eine Bus-Braut bin, dass ich zu schlau bin. Ich kann damit umgehen. Ich bin durch das Gebet gewappnet, Mann!
»Ashley, tut mir leid, dass ich dich aufhalte, wo du doch in die Kirche willst, aber ich wollte dich unbedingt noch erwischen. Du scheinst in letzter Zeit ständig in der Kirche zu sein.«
»Schon in Ordnung, Mama.« Ich sollte Werbung für Fernsehsessel machen. Mir wird schon fast schwindelig vor lauter Friede in mir.
»Ich rufe dich wegen deinem Bruder an.«
»Haben sie ihn gefeuert?« Ich atme langsam aus.
»Nein, es ist nichts dergleichen. Warum sagst du so etwas, Ashley? Dein Bruder ist ein guter Busfahrer.« Sie schnalzt mit der Zunge. »Manchmal weiß ich einfach nicht, was ich von dir halten soll. Du hattest alle erdenklichen Möglichkeiten. Dein Bruder war nie so begabt wie du, Ashley Wilkes Stockingdale.«
Autsch! Wieder die Anrede mit dem vollen Namen. »Entschuldigung, Mama. Ich habe es nicht böse gemeint. Dave ist ein prima Busfahrer«, sage ich mit zusammengebissenen Zähnen. Mein friedvolles Äußeres bröckelt. Nein! Reset - noch mal von vorn!
»Ich rufe dich an, um dir zu sagen, dass Dave heiraten wird, Schatz.«
Meine Knie werden weich, und mein Magen verkrampft sich. Habe ich da gerade richtig gehört? Mein Marihuana rauchender, obdachloser, ehrgeizloser Bruder heiratet noch vor mir? Mein jüngerer Bruder. Na schön, Gott, ich weiß, ich habe gerade den ganzen Morgen mit dir im Gebet verbracht, aber jetzt will ich so dermaßen nicht mit dir sprechen!
»Auf einmal? Hat er jemanden geschwängert?« Wo ist der Friede hin, für den ich gebetet habe? Meine gelassene, christusähnliche Reaktion? Ich höre mich an, als wäre ich in Ricki Lakes billiger Talkshowund nicht bei Billy Graham.
»Ashley! Sag nicht so etwas Schreckliches! Niemand ist schwanger. Wir mögen sie sehr. Sie ist ein nettes Mädchen.«
»Spricht sie Englisch?« Und schon wieder dieses unkontrollierbare Mundwerk!
»Ein wenig. Warum fragst du?«
»Gib mir Dave, Mama. Ich will ihm gratulieren.«
Ich warte kurz, während am anderen Ende schlurfende Schritte zu hören sind. Dave ist offensichtlich noch im Bett. Warum sollte er das auch nicht sein? Es ist schließlich erst neun Uhr morgens.
Mein Bruder und ich führen seit unserer Kindheit einen heimlichen, aber allgegenwärtigen Wettstreit. Es wird Zeit, dass wir das hinter uns lassen. Ich werde ihm gratulieren und mich für ihn freuen. Und wenn es mich umbringt.
»Hallo, du ewige Brautjungfer.« Er prustet vor Lachen. »Was hältst du von meinen Neuigkeiten?«
Ich weiß, dass er nur neidisch ist. Ich weiß, dass er nur neidisch ist. Steh drüber; nur so kommst du aus diesem blöden Verhaltensmuster raus. Mein Gott, hilf mir jetzt!
»Dave, das sind wunderbare Neuigkeiten. Wo hast du sie kennen gelernt?«, antworte ich mit ruhiger Stimme. Aber dann bewegt sich mein Mund wieder von alleine: »Bei der Einwanderungsbehörde?« Autsch, das wollte ich gar nicht laut sagen.
Dave bleibt ganz cool bei meiner Attacke. »Nur weil ich heirate und du nicht einmal eine Verabredung mit einem Mann zustande kriegst, musst du nicht wütend auf mich sein, Schwesterherz«, sagt er mit der Sanftheit eines Psychologen. »Eines Tages wird auch für dich der Richtige kommen. Ich habe gehört, dass man in Florida viele reiche Witwer findet. Vielleicht solltest du dich versetzen lassen. Allerdings habe ich auch gehört, dass sie ziemlich schnell weg sind - entweder weil sie heiraten oder weil sie sterben. Du solltest dich also beeilen.« Er lacht wieder.
Ich ignoriere ihn. »Wie heißt deine Verlobte?«
Sein Tonfall ändert sich. »Mei Ling. Sie kommt aus Hongkong. Ihr Vater ist gestorben, als sie nach Amerika gekommen sind, und sie hat die letzten zehn Jahre in Michigan gelebt.«
Ich bekomme Mitleid mit dieser Frau. Ich kenne sie zwar nicht, aber sie wird meinen Bruder heiraten. Wenn das nicht genug Grund ist, Mitgefühl mit jemandem zu haben. Wenn Mei Ling Amerikanerin wäre, hätte ich gedacht, dass sie weiß, worauf sie sich da einlässt. Aber da sie nur Immigrantin ist, mache ich mir ernsthaft Sorgen um ihr zukünftiges Glück. Und um das meines Bruders. Trotzdem sehe ich mich schon bei ihrer Goldenen Hochzeit in einem
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