LIEBES LEBEN
kommen.« Ich beobachte ihn, als er mit besorgtem Ausdruck zu Mei Ling geht. Er liebt sie wirklich aufrichtig, und ich bin sprachlos, dass in meinem Bruder überhaupt so viel Liebe steckt. Das bringt mein ganzes Weltbild durcheinander. Er spricht zärtlich mit ihr. »Mei Ling, wenn du irgendetwas brauchst, frag einfach Ashley, ja? Ich habe mein Handy dabei. Ruf an, wenn es dir zu viel wird. Dann bin ich in zehn Minuten da.«
Mei Ling nickt. »Mach dir keine Sorgen. Mir geht es gut. Es ist doch nur deine Familie.«
Dave zwinkert mir zu. »Sie sagt, es sei doch nur meine Familie. Bleib bei ihr, Ashley. Ich verlasse mich auf dich.«
Dave küsst Mei Ling und sie erwidert den Kuss mit einer Leidenschaft, die in diesem Haus nicht akzeptabel ist. Meine Mutter spitzt missbilligend die Lippen. Dave sieht Mamas Gesichtsausdruck nicht und ist schon zur Tür hinaus, bevor Mama ihren Unmut kundtun kann. Küssen gehört in meiner Familie ausschließlich ins Schlafzimmer. Zumindest habe ich immer angenommen, dass es dorthin gehört. Da ich meine Eltern nie beim Küssen gesehen habe und mein Bruder und ich existieren, gehe ich davon aus, dass es etwas Heimliches ist. Iiih, schlimme Vorstellung.
Es klingelt wieder. Die Verwandtschaft ist da. Ich öffne die Tür, und draußen stehen drei meiner Großtanten aneinandergeschmiegt zu einer übergewichtigen, funkelnden Rheinkieselansammlung. »Ashley!«, kommt es wie aus einem Mund.
»Tante Trudy, Tante Val, Tante Babe.« Ich umarme sie alle, und wir stehen noch auf der Veranda, als die erste Bombe platzt.
»Nun?«, sagt Tante Val, wie es nur eine lebenslange Raucherin kann. Sie hebt meine linke Hand hoch. »Seht nur dieses hübsche Mädchen an und immer noch nicht verheiratet. Was stimmt nur nicht mit ihr?«, sagt sie zu ihren Schwestern.
Tante Babe schüttelt den Kopf. »Das ist ein Verbrechen.«
»Wir leben nicht ewig, weißt du«, sagt Tante Trudy und klingt dabei sehr wie Marge Simpson. Ich habe da so meine Zweifel. Ich glaube, die drei sind in Oma-Parfüm getränkt, dass sie sich ewig halten. Sie sind besser konserviert als Tutenchamun selbst.
»Sie ist kein junges Ding mehr«, meint Tante Babe.
Sie schauen sich gegenseitig an, mit denselben synchron gespitzten Lippen wie bei meiner Mutter, und schütteln die Köpfe. Es sieht aus wie ein perfekt einstudiertes Ballettstück. Jetzt ist meine melancholische Stimmung weg. Stattdessen bin ich nur noch sauer.
Ich weiß, dass meine Großtanten älter sind und ich ihnen deshalb Respekt erweisen sollte, aber Gott sei mir gnädig, wenn diese drei damenbärtigen Mäuler als vereinte Schnute auftreten. Dann will ich mich gegen ihr Urteil verteidigen, wie eine Katze, bei der sich beim Anblick eines kläffenden Terriers alle Nackenhaare aufstellen. Aber ich weiß, dass ich damit nichts erreiche.
»Tantchen, ihr seid so witzig. Ich habe einfach noch nicht den Richtigen kennen gelernt. Aber ich bin mit einem Arzt von Stanford befreundet.«
Vereintes Begeisterungsquieken.
»Du bist was? « Meine Mutter taucht plötzlich aus dem Nichts auf.
»Es ist noch nichts Ernstes, Mama. Freu dich nicht zu früh.«
»Ich hätte nie gedacht, dass dein Bruder vor dir heiratet, Ashley. Du musst zu gut sein für die Männer hier in der Gegend«, meint Tante Babe.
»Sie ist nicht zu dick«, mutmaßt Tante Trudy. »Sie hat ein bisschen was auf den Rippen.«
Habt Mitleid mit mir.
»Sie ist eigentlich auch ganz hübsch. Trotz dieses schrecklichen Haarschnitts.«
»Apropos hübsch, kommt doch herein und lernt Mei Ling kennen.« Ich öffne die Tür ganz, und meine Tanten eilen zum Tisch wie Tiere zum Futtertrog. Wahrscheinlich kommt die Braut dran, wenn dieser wichtige Teil des Geschäfts erledigt ist.
Das klingt vielleicht komisch, aber ich bin froh, dass sie den eigentlichen Grund für mein Singledasein nicht erkennen. Sie haben tatsächlich darüber diskutiert, warum ich noch Single bin. Wenn sie das Problem erkannt hätten, wüsste ich es. Das beweist, dass meine Fehler gut versteckt sind. Vielleicht verwirre ich deshalb Amerikas Männerwelt. Aber sie lassen sich definitiv beheben. Ich muss sie nur ausgraben und richtig ordnen, wie ein guter Archäologe.
Die Freundinnen meiner Mutter kommen, und damit wären alle Anwesenden komplett. Mei Ling verneigt sich vor den Gästen, die ihre Gedanken laut flüsternd äußern. Obwohl Mei Ling perfekt Englisch spricht, scheint meinen Großtanten nicht aufzufallen, dass sie alles versteht.
»Ich bezweifle,
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