Liebesdienste / Roman
Familienhintergrund war noch kaputter als seiner. Sie waren zwei auf verrückte Weise Hinterbliebene.
Jackson und Julia hatten Seite an Seite in einem Leichenschauhaus der Polizei gestanden und die zerbrechlichen Vogelknochen von Julias seit vielen Jahren vermisster Schwester Olivia betrachtet. So etwas wirft einen langen Schatten auf die Seele, und Jackson befürchtete, dass es diese Erfahrung von Verlust war, die sie zu wahren Herzensverwandten machte. Er argwöhnte, dass es vielleicht keine gesunde Sache war – andererseits, war geteiltes Leid nicht eine stärkere Bindung als zum Beispiel eine gemeinsame Vorliebe fürs Skifahren oder für thailändisches Essen oder all die anderen Dinge, auf die Paare ihr Leben gründeten?
»Ein Paar?«, sagte Julia nachdenklich, als er dieses Thema ansprach. »Siehst du uns so?«
»Du nicht?«, fragte er, plötzlich beunruhigt, und sie lachte und sagte: »Doch natürlich«, und warf den Kopf zurück, so dass ihre Locken herumhüpften wie Sprungfedern. Er kannte diese Bewegung gut, sie bedeutete fast immer, dass Julia sich verstellte.
»Du siehst uns nicht als Paar?«
»Ich sehe uns als dich und mich«, antwortete Julia, »zwei Menschen, nicht eine Einheit.«
Etwas, was Jackson an Julia mochte, war ihre Unabhängigkeit, etwas, was er an Julia nicht mochte, war ihre Unabhängigkeit. Sie führte ihr eigenes Leben in London, Jackson besuchte sie. Und sie besuchte ihn in seinem Haus am Fuß der Pyrenäen, wo sie in riesigen Steinkaminen Holzfeuer machten, viel Wein tranken, viel Sex hatten und davon sprachen (oder vielmehr sprach Julia davon), sich einen Pyrenäen-Berghund zuzulegen. Manchmal fuhren sie zusammen nach Paris, sie beide mochten Paris, aber Julia kehrte immer nach London zurück. »Ich bin wie eine Urlaubsaffäre für dich«, beklagte sich Jackson, und Julia sagte: »Aber das ist doch wunderbar, oder?«
Zu ihrem Geburtstag im April fuhr Jackson mit ihr nach Venedig ins Cipriani, und sie mussten feststellen, dass eine Woche von einem, ganz zu schweigen von beidem ein bisschen zu viel des Guten war. Julia meinte, es sei, als hätte man den besten Kuchen der Welt entdeckt und würde nichts anderes mehr essen, so dass man »dessen überdrüssig wird, wonach man sich am meisten gesehnt hat«. Jackson fragte sich, ob sie aus einem Stück zitierte, was sie häufig tat und er selten begriff. »Ich mag sowieso keine Süßigkeiten«, erwiderte er etwas missmutig.
»Umso besser für dich, dass das Leben keine Schachtel Pralinen ist, oder?«, sagte sie. Die Anspielung wiederum verstand er.
Forrest Gump.
Er hasste den Film. Dabei fuhren sie gerade mit einem Vaporetto den Canal Grande entlang, und als sie an der Santa Maria della Salute vorbeikamen, hatte Jackson nichts Besseres zu tun, als Julia anzuschnauzen. Gleichgültig, wo sie waren, es war immer wie auf einer Bühne. Julia war hochzufrieden.
An ihrem Geburtstag machte Jackson mit Julia eine Gondelfahrt – gleichzeitig mit fast allen anderen Venedig-Touristen.
»Er wird doch nicht singen, oder?«, flüsterte Julia, als sie sich auf das rote Samtbänkchen setzten. »Ich hoffe nicht«, sagte Jackson. »Ich glaube, dafür muss man extra zahlen.«
Der Gondoliere mit seiner gestreiften Weste und dem Strohhut wirkte wie ein schreckliches Touristenklischee und erinnerte Jackson an das Staken auf dem Fluss in Cambridge. In Cambridge hatte Jackson in der »Vor«-Zeit gelebt, dort war Julia aufgewachsen, dort wuchs jetzt seine Tochter auf. Früher hatte Jackson Cambridge nie als Zuhause betrachtet, Zuhause war (merkwürdigerweise) die Armee oder der dunkle Ort, wo er selbst groß geworden war, ein Ort, an dem es in seiner Erinnerung und möglicherweise auch in Wirklichkeit ständig regnete. Jetzt, da ihn der Fluch des Rückblicks eingeholt hatte, begriff er, dass Cambridge vielleicht ein richtiges Zuhause gewesen war – ein sicherer Ort mit einer Frau, einem Haus und einem Kind. Eine weitere Institution. Vorher und nachher – so teilte er sein Leben ein. In vor und nach dem Geld.
Der Gondoliere sang nicht, und die Fahrt war letztlich doch nicht so klischeehaft. Nachts war Venedig noch großartiger, die Lichter glitzerten auf dem schwarzen Wasser wie sanft schimmernde Juwelen, und in dem schmalen Kanal erwartete sie hinter jeder Ecke eine Überraschung – Jackson spürte Poesie in seiner Seele aufsteigen, bis Julia ihn anzischte: »Du wirst mir doch keinen Heiratsantrag machen, oder?«
Er hatte an nichts dergleichen
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