Liebesdienste / Roman
ausziehen und dann von Cramond aus ins Wasser waten können, andererseits war sie für eine erfundene Geschichte sehr durchdacht.
Oder vielleicht gab es tatsächlich eine tote Frau, und Jackson Brodie hatte sie umgebracht. Die Person, die die Leiche fand, war immer der Hauptverdächtige. Er war ein Zeuge, aber er hatte sich verdächtig gemacht. (Warum?) Jackson behauptete, er habe versucht, sie aus dem Wasser zu ziehen, damit die Flut sie nicht fortspülte, aber genauso gut hätte er sie
ins
Wasser stoßen können. Den Verdacht von sich selbst ablenken, indem man die Polizei ruft.
Sie hörte Archie die Treppe herunterpoltern, in die Küche einfallen und etwas grunzen, was bestimmt nicht »Guten Morgen« bedeutete. Sein Gesicht war wund vor Pickeln, seine Haut sah aus wie gekocht. Was, wenn Archie keine Verwandlung durchmachte? Was, wenn er sich nicht im Stadium einer Puppe befand? Was, wenn es
das
war?
Sie legte Weetabix in eine Schale, goss Milch darüber, reichte ihm einen Löffel. »Iss«, sagte sie. Ein Hund wäre fähiger. Mit vierzehn war er die evolutionäre Leiter auf eine präsoziale Stufe hinuntergerutscht. Ein paar Männer in Louises Bekanntschaft waren nie wieder nach oben geklettert.
Sie wollte mit ihm über den Ladendiebstahl reden. Sie wollte mit ihm auf vernünftige Weise darüber sprechen, nicht die Beherrschung verlieren, ihn nicht anschreien und einen verdammten Idioten nennen. Viele Kinder klauten und schlugen dennoch keine Verbrecherlaufbahn ein. Sie selbst zum Beispiel. Obwohl sie eine Laufbahn des Verbrechens eingeschlagen hatte, aber sie stand auf der Seite der Guten. Hoffentlich.
Vielleicht tat er es regelmäßig, vielleicht hatte er es nur einmal getan. Sie wusste es nicht. Louise war dabei gewesen, deswegen musste sie annehmen, dass es sich um eine Art Rebellion gegen sie handelte, ein psychologisches Ausagieren. Sie waren bei Dixons im St. James Centre gewesen, begingen den Tod ihrer Mutter, indem sie in Erwartung des Versicherungsgeldes einen großen Flachbildschirm kauften. Louise hatte vor Jahren eine Lebensversicherung für ihre Mutter abgeschlossen. Sie war der Meinung, dass sie bei deren Tod ruhig abkassieren könne, da sie nie in irgendeiner Weise von ihrem Leben profitiert hatte. Es war eine kleine Police, sie konnte keine großen Beiträge zahlen, und ein-, zweimal war ihr durch den Kopf gegangen, dass sie versucht gewesen wäre, ihre Mutter um die Ecke zu bringen, wenn es sich um eine wirklich große Summe
(zwei Millionen)
gehandelt hätte. Ein einfacher Unfall, Alkoholiker fallen schließlich ständig die Treppe hinunter. Und eine Kriminalpolizistin weiß, wie man Spuren beseitigt.
Archie hatte etwas Blödes geklaut – eine Packung AA -Batterien, für die er leicht hätte zahlen können. Aber ums Zahlen ging es natürlich nicht. Sie war am anderen Ende des Ladens, als der Alarm an der Tür losging, und dann rannte ein Wachmann an ihr vorbei, stürzte sich auf Archie, der gerade hinausging, packte ihn an Schulter und Ellbogen, drehte ihn um und holte ihn zurück. Der professionelle Teil ihres Gehirns registrierte die Aktion als routiniert und effizient. Der unprofessionelle Teil ihres Gehirns zog in Betracht, dem Wachmann auf den Rücken zu springen und ihm die Daumen in die Augen zu drücken. Niemand warnte einen davor, wie wild Mutterliebe sein konnte. Doch sehen wir den Tatsachen ins Auge, niemand warnte einen vor irgendetwas.
Sie überlegte, ob sie die Hilflose spielen und sich seiner Gnade ausliefern sollte. Bedauerlicherweise war es nicht ihr größtes Talent, die Hilflose zu spielen. Stattdessen ging sie zu den beiden, zog ihren Polizeiausweis heraus und fragte kühl, ob sie etwas tun könne. Der Wachmann begann seine Erklärung, und sie sagte: »Okay, ich nehme ihn mit, werde ihn mir vorknöpfen«, und marschierte mit Archie aus dem Laden, bevor der Wachmann protestieren und Archie etwas Dummes von sich geben konnte (
Mum
zum Beispiel). Sie hörte, wie ihr der Mann »Wir erstatten immer Anzeige!« nachrief, und wusste, dass sie auf Band aufgenommen worden waren. Einige Zeit wartete sie ängstlich, ob die Sache noch ein Nachspiel hatte, aber es kam nichts, Gott sei Dank. Wahrscheinlich hätte sie am Ende eine Möglichkeit gefunden, das Band verschwinden zu lassen. Wenn nötig, hätte sie das Band
gegessen
.
Draußen, in der unterirdischen Düsternis des mehrstöckigen Parkhauses saßen sie zusammen im kalten Wagen, starrten durch die Windschutzscheibe auf den
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