Liebesdienste / Roman
gelegentlichen Nachrichten von ihren Kindern –, waren Einladungen, ihren Penis vergrößern zu lassen, oder Sonderangebote von Boots.com. Sie hätte gern Grahams E-Mails gelesen, aber sie waren mit einem Passwort geschützt. Gloria hatte lange vor den gestrigen Ereignissen darüber nachgedacht, doch bislang hatte sie das Sesam-öffne-dich nicht gefunden – sie hatte es auch mit diesem Begriff versucht, neben allen anderen Wörtern und Wortkombinationen, die ihr einfielen. »Kinloch«, »Hartford«, »Braecroft«, »Hopetoun«, »Villiers« und »Waverley«. Nichts. Das waren die Namen der sieben Basismodelle von Hatter-Häuser. »Kinloch« war das billigste, »Waverley« das teuerste. »Hartford« und »Braecroft« waren Doppelhäuser. Heutzutage baute Graham mehr Einzelhäuser als früher. Den Leuten gefielen frei stehende Häuser, gleichgültig, wie klein sie waren. »Kinloch« war so winzig, dass sich Gloria an ein Monopoly-Haus erinnert fühlte.
Nächsten Monat würde Gloria sechzig. Im Radio hatte sie gehört, dass die sechzig die neuen vierzig waren. Nie zuvor hatte sie etwas Dümmeres gehört. Sechzig war sechzig, es hatte keinen Sinn, das zu leugnen. Wer würde für sie im Alter sorgen? Ob Graham tot oder lebendig war, änderte bei der Polizei und vor Gericht nichts, Hatter-Häuser würde zerschlagen werden. Zu Recht, wie Gloria meinte, aber es wäre schön, wenn sie zuvor noch eine kleine Pension für sich beiseite schaffen könnte. Sie stellte sich vor, dass irgendwo ein großes schwarzes Buch lag, das alle Geheimnisse Grahams enthielt, alles über sein Geld. Das Buch des Magus. Ebenso wie mit dem Kapitalismus war es jetzt zu spät, ihn danach zu fragen.
Gloria gab die Suche nach dem Passwort auf und überprüfte ihr Bankkonto. Sie hatten ein gemeinsames Konto, das vor allem für die üblichen Rechnungen und den Haushalt bestimmt war. Gloria war in Geldangelegenheiten vollkommen abhängig von Graham, eine schockierende Erkenntnis, die ihre volle Wirkung erst im Laufe der Jahrzehnte entfaltet hatte. In der einen Minute saß man auf einem Barhocker, trank einen Gin mit Orangensaft und sorgte sich, ob man hübsch aussah, und in der nächsten war man nur noch ein Jahr von der Seniorenkarte entfernt, stand vor dem Bankrott und öffentlicher Demütigung. Und die sechzig waren die gleichen alten sechzig wie eh und je.
Das Haushaltskonto wurde von einem Hatter-Häuser-Konto automatisch aufgefüllt. Wann immer sie Geld abhob, wurde mehr darauf überwiesen, was immer sie an einem Tag ausgab, wurde über Nacht wieder eingenommen. Es grenzte an Zauberei. Niemand schien die fünfhundert pro Tag zu bemerken, die Gloria abschöpfte. Ihr Notgroschen. Es war vollkommen legal, es war ein gemeinsames Konto, es lief auch auf ihren Namen. Fünfhundert am Tag – jeden Tag außer Sonntag, Glorias Ruhetag, den ihr baptistisches Gewissen einforderte. Die neuen Geldwäschebestimmungen erschwerten es, größere Geldsummen zu bewegen, doch mit fünfhundert am Tag schien sie außerhalb des Radarschirms sowohl der Hatter-Häuser-Buchhalter als auch der Banken zu bleiben. Sie nahm an, dass früher oder später eine Alarmglocke losgehen, eine Flagge gehisst würde, aber dann wären vermutlich alle Guthaben bereits eingefroren, und wenn es auf der Welt auch nur ein bisschen gerecht zuging, wäre Gloria zu diesem Zeitpunkt mit ihrem Plastiksack voll Beute schon über alle Berge. Zweiundsiebzigtausend Pfund war nicht sehr viel, um ein neues Leben anzufangen, aber es war besser als nichts, mehr als das, was die meisten Menschen auf der Welt hatten.
Gloria holte Grahams Sachen aus dem Plastiksack und legte sie in der Waschküche auf das Ablagebrett aus Ahornholz. Seine Schuhe, gewienert, bis sie wie Lakritze glänzten, Hose und Jacke seines Anzugs, das Hemd von Austin Reed, die teuren Seidensocken, die vermutlich eine Krankenschwester zu einem Knäuel ineinandergesteckt hatte, das Unterhemd aus Baumwolle und die Boxershorts von Marks and Spencer – die Unterwäsche schien ihr besonders deprimierend – und als Letztes seine langweilige Firmenkrawatte, schlaff eingerollt wie eine mutlose Schlange am Boden des Plastiksacks.
Es war merkwürdig, seine Kleider so ausgebreitet vor sich zu sehen, flach und zweidimensional, als wäre Graham plötzlich unsichtbar geworden, während er sie trug. Sie waren gegen ein Baumwollhemd ausgetauscht worden, das seine Roquefort-Beine und seinen nicht mehr festen Hintern entblößte. Das
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